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       # taz.de -- Die Wahrheit: Die Wetterfahne
       
       > Wer bei Waldbrandstufe 5 unter dem Kreuz des Südens ankert, sollte sich
       > nicht blind auf das Gießkannenprinzip verlassen.
       
   IMG Bild: Die junge Kartoffel mit Zwillingsbruder als Monddiebe
       
       Wir lagen unterhalb des Kreuz des Südens und hatten Dietmar dabei. Das wäre
       nicht weiter ins Gewicht gefallen und hätte der Stimmung keinen Abbruch
       getan, wenn Dietmar nicht so viel Stuss geredet hätte, ja Dietmar bestand
       seinem gesamten geschwätzigen Wesen nach aus Stuss. Zäh und langwierig lief
       Letzterer zur Gänze an Dietmar herunter, es war nicht schön. Doch da es
       sich in unserem Falle um einen Ausflug handelte, ließen wir es geschehen;
       Dietmar hätte trotz großer Reden nicht nach Hause gefunden, und wir waren
       mittlerweile derart hacke, dass wir nicht wussten, wo Dietmar wohnte,
       geschweige denn, wo wir beheimatet waren.
       
       So gingen die Tage ins Land und die Nächte verschliefen wir. Es war ein
       später Sommer, Waldbrandstufe 5, und ich hatte es mir zur Gewohnheit
       gemacht, täglich mit einem abgebrannten Streichholz gegen 11.40 Uhr MEZ
       einen schwarzen Strich an die Hauswand unterhalb des Kreuz des Südens zu
       machen. Just dort vor der Wand logierte ein Eichhörnchen, dessen Schwanz
       nicht die gewohnte Buschigkeit aufwies, was allerdings die Kregelheit des
       Tieres nicht minderte.
       
       Am siebzehnten Tage klingelte es. Wir kamen überein, dass wir niemanden
       erwarteten, und machten nicht auf. Schwerer Fehler, denn jetzt fing es an,
       nach dem Gießkannenprinzip zu regnen. Das Gießkannenprinzip besagt, dass
       jeder mal nass wird, wenn es regnet.
       
       Dietmar wurde nicht nass, denn den hatten wir woanders einholen geschickt –
       auf die Gefahr hin, dass er nicht zurückfinden würde. Doch das war uns
       egal, weil wir noch ausreichend Mettbrötchen besaßen und eine ordentliche
       Wetterfahne, die mittlerweile, bedingt durch westliche Winde, drei Meilen
       gegen den Wind roch. Außerdem hatte Dietmar zuvor wieder ordentlich Stuss
       verzapft, es reichte nun wirklich. 
       
       Die Einkaufsliste war von Dietmar am schwarzen Brett vergessen worden, an
       das wir alles pinnten, was die Natur unter der Woche bereithielt, etwa
       Tempos oder Waldbeeren. Auf der Liste stand: „Mutti vom Bahnhof abholen,
       vier Pfund Möhren, Passwort ändern“. Keiner von uns mochte Möhren – typisch
       für Dietmar, totaler Stuss. Na egal, er würde sowieso nicht zurückfinden
       zum Kreuz des Südens, das immer unbarmherziger die Hauswand ausleuchtete. 
       
       Von unten, denn wir befanden uns auf dem Neptun, regnete es ohne Unterlass
       weiter nach dem Gießkannenprinzip. Der Sommer war wohl vorbei und das
       Schild mit der Waldbrandstufe hatte sich von selbst auf 0 zurückgestellt.
       Die schwarzen Striche mit dem abgebrannten Streichholz machte ich längst
       nicht mehr an die Wand, und das Eichhörnchen war zum Überwintern
       verschwunden. Unser Ausflug hätte sich samt strammer Wetterfahne so
       angenehm beim Aufwachen ins Nichts verflüchtigen können. Ich hätte auch
       nicht zum Stift gegriffen und ihn notiert.
       
       Doch da klingelte es erneut. Ich öffnete die Tür. Auf dem Abtreter stand
       Dietmar mit Möhren und Mutti. „Ich habe das Passwort geändert!“, rief er
       und trat ein. Draußen regnete es.
       
       23 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Harriet Wolff
       
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