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       # taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Der linke Konservatismus
       
       > Der Philosoph Slavoj Žižek ärgert sich über den Hillary-Konsens. Den
       > Soziologen Didier Eribon dürfte er weniger stören. Das liegt an seiner
       > Haltung.
       
   IMG Bild: Kann man sie unterstützen? Beide Philosophen sehen das unterschiedlich
       
       Manchmal stehen Theoretiker im Dialog, ohne miteinander zu reden oder ohne
       sich auch nur aufeinander zu beziehen. Manchmal kann eine Kolumne dieses
       Dialogische nachliefern.
       
       Im August veröffentlichte Slavoj Žižek einen Text unter dem Titel „Der
       Hillary-Konsens beschädigt die Demokratie“ in Newsweek. Darin denunziert er
       die breite Allianz – von Wallstreet bis zu Sanders-Anhängern, von Big
       Business bis zu den Gewerkschaften, von Armeeveteranen bis zur
       LGBT-Community – die sich gebildet hat, um Trump zu verhindern. Diese
       Allianz bestehe eben im „Hillary-Konsens“, dem einzig Gemeinsamen dieser
       disparaten Akteure.
       
       Er verurteilt diese Allianz, weil sie das zum Verschwinden bringe, was er
       als zentral erachtet: den Zorn der Arbeiterklasse. Jenen Zorn, den Sanders
       zum Ausdruck brachte. Nun aber werde dieser Zorn zum Verschwinden gebracht
       – durch einen Taschenspielertrick der Eliten: Sie gestehen allen
       Minderheitenforderungen höchste Legitimität zu, sie unterstützen den Kampf
       um Frauen- und Homosexuellenrechte – aber um den Preis eines ungehinderten
       Funktionierens des Kapitalismus. So Žižek.
       
       So könne etwa Tom Cook, Vorsitzender von Apple, in einer großen
       solidarischen Geste einen Brief mit LGBT-Forderungen unterschreiben – ohne
       dass an den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen von Apple gerührt werde.
       
       ## Den Kapitalismus am Leben halten
       
       Für Žižek sind die Minderheitenkämpfe aber nicht nur das liberale
       Feigenblatt des Kapitalismus. Sie sind vielmehr zu jenen Alibikämpfen
       geworden, die das ungehinderte Funktionieren der globalen Marktökonomie
       nicht nur verdecken, sondern auch stärken. Sie haben sich zu dem verkehrt,
       was den Neoliberalismus befördert. Minderheitenpolitik wird zum
       konservativen Programm, das dazu beiträgt, den Kapitalismus ungehindert am
       Leben zu erhalten.
       
       Sie sind jenes Gemeinsame, das den schändlichen Hillary-Konsens schmiedet,
       nur um umso ungenierter den Kapitalismus uneingeschränkt walten zu lassen
       und von der Notwendigkeit radikaler ökonomischer Maßnahmen abzulenken. Im
       Kampf gegen Trump ginge es somit darum, echte linke Politik zu verhindern.
       So weit Žižek.
       
       Didier Eribon hingegen, der aus einer Arbeiterfamilie stammende
       französische Soziologe, meinte kürzlich in einem Interview in der Zeit, die
       LGBT-Bewegung als Erfindung des Neoliberalismus und die Frauenbewegung als
       Ablenkung vom eigentlichen Kampf, vom Klassenkampf, abzutun – das sei
       linker Konservatismus. „So haben die Stalinisten in den Fünfzigern
       argumentiert.“
       
       ## Linke Politik
       
       Eribon versteht sich ebenso als Linker wie Žižek. Er hält an allem fest,
       was linkes Denken ausmacht: am Begriff der Klasse, an den sozialen
       Determinierungen, am Begriff der Ausbeutung, am Internationalismus. Eribon
       setzt sich ebenso wie Žižek mit den Rechten auseinander. (Es ist nicht das
       mindeste Problem, dass es dabei kaum einen Unterschied macht, ob es sich um
       Donald Trump oder den Front National handelt.)
       
       Der entscheidende Unterschied zwischen Žižek und Eribon liegt in ihrer
       Haltung zu Minderheitenkämpfen. Eribon hält die Kämpfe um die Rechte von
       Frauen, LGBT, Migranten oder Antirassisten für zentral. Sie sind für ihn
       alles andere als ein Feigenblatt aus der neoliberalen Trickkiste. Mehr
       noch: Er hält diese Forderungen nicht nur für wesentlich, er hält sie sogar
       für das Spezifikum linker Politik. Gerade in der Auseinandersetzung mit den
       Rechten wie dem Front National.
       
       Denn ohne diese, ohne das Eintreten für ebenjene Minderheiten sei man
       schnell, so Eribon, beim Faschismus – oder bei den Rechtspopulisten
       heutiger Prägung, muss man hinzufügen. Auch diese erheben Einspruch gegen
       die „Diktatur der Banken“. Linke Politik, die von
       Antidiskriminierungskämpfen absehe und diese als Ablenkungsmanöver der
       liberalen Eliten denunziere, würde sich in Eribons Perspektive also ihrer
       Differenz zur radikalen Rechten entheben.
       
       Deshalb spricht er in diesem Zusammenhang auch von einem „Rechtsruck der
       Linken“. Genuin linke Politik wäre es demnach, nicht nur die vergessene
       Arbeiterklasse wieder zu repräsentieren – sondern zwischen dieser und den
       Minderheitengruppen zu vermitteln. Und Allianzen zu schmieden.
       
       28 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Isolde Charim
       
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