URI: 
       # taz.de -- ARD-Film „Das weiße Kaninchen“: Jäger und Beute
       
       > Starkes öffentlich-rechtliches Fernsehen: der düstere und beängstigend
       > gute Film „Das weiße Kaninchen“ über Mobbing und Missbrauch.
       
   IMG Bild: Gleich zwei Chatbekanntschaften missbrauchen Sara (Lena Urzendowsky)
       
       Der Daumen zeigt senkrecht nach oben, volle Punktzahl. „Das weiße
       Kaninchen“ ist souverän geschrieben, inszeniert und gespielt, es behandelt
       ein relevantes Thema, abgründig umgesetzt, nicht die Spur pädagogisch. So
       wünschen wir uns das öffentlich-rechtliche Fernsehen jede Woche, jeden Tag.
       Den letzten vergleichbaren Film zeigte die ARD am 20. Januar mit „Operation
       Zucker: Jagdgesellschaft“. Damals ging es um den sexuellen Missbrauch von
       Kindern durch organisierte Päderasten. Ein anderes, schon fünf Jahre altes
       Beispiel ist „Homevideo“, über das im Suizid mündende Leiden eines
       Pubertierenden, dessen privates Masturbationsvideo in die falschen Hände
       geraten war.
       
       Wenn nun also „Das weiße Kaninchen“ die Themen Pädophilie und Cyber-Mobbing
       kurzschließt, ist das nur ein logischer Schritt weiter in einer Welt, die
       nicht in Ordnung ist. Wenngleich sie vielleicht doch nicht ganz so
       verdorben ist, wie sie hier konstruiert wird: Dass nämlich gleich die
       ersten beiden Chatpartner, an die die 13-jährige Sara (Lena Urzendowsky)
       gerät, unabhängig voneinander ein unterschiedlich durchtriebenes, in jedem
       Fall böses Spiel mit ihr spielen, ist der auf 90 Minuten verdichteten
       Version der Welt geschuldet. Der schnöselige Schönling Kevin verführt Sara
       zu Sexfotos, um sie damit zu Sexfilmen oder gleich zum Sex mit ihm zu
       nötigen.
       
       Noch perfider ist nur ein netter, engagierter Lehrer: „Also versteht mich
       nicht falsch. Ich will das Internet nicht verdammen. Ich will euch nur
       bewusst machen, dass dort Jäger unterwegs sind. Wenn ihr nicht aufpasst,
       seid ihr vielleicht die Beute.“ Und er der Jäger. Selbst Vater einer
       Tochter in Saras Alter, nimmt er im Chat mit Sara die Identität eines
       Teenagers an, angeblich um Leute wie Kevin zu überführen. Die Besetzung
       dieses „Vertrauenslehrers“ mit dem pausbäckig-knuddeligen Devid Striesow
       ist ein Coup. Wie er im Sportunterricht als Helfer beim Bockspringen erst
       genügend Eindrücke von den Mädchen in ihren engen Sportsachen sammelt, um
       sich dann kurz zu entschuldigen und sich schnell befriedigt. Wie er nur
       einen kurzen Moment lang irritiert ist, als ihn die Lehrerkollegin beinahe
       ertappt. Das Leben als Pädophiler ist eine permanente Undercoverexistenz.
       
       Und wenn er nicht aufpasst, ist der Jäger vielleicht die Beute. Der Lehrer
       hat sich Kevin vorgeknöpft. Ein Polizist (Shenja Lacher) findet das gut –
       bis er auf einen Satz stößt, den der Lehrer im Chat an Sara geschrieben
       hat: „Vielleicht liebt er dich nicht, aber deine Liebe kann er dir nicht
       nehmen.“ Der Polizist hat den Satz schon einmal gelesen, er kam ihm bei
       einem alten, unaufgeklärten Fall unter.
       
       ## Von den Machern des stärksten „Tatorts“
       
       Florian Schwarz (Regie) und Michael Proehl (Drehbuch), die einander seit
       Filmakademiezeiten in Ludwigsburg kennen, zeichneten bereits für den
       starken Ulrich-Tukur-„Tatort“ [1][„Im Schmerz geboren“] verantwortlich. Am
       „Kaninchen“-Drehbuch hat der Grimme-Preis-Sammler Holger Karsten Schmidt
       mitgeschrieben, der in Ludwigsburg Drehbuchschreiben lehrte, als Schwarz
       und Proehl dort studierten.
       
       Es war also zu erwarten, dass „Das weiße Kaninchen“ sich nicht nur
       thematisch, sondern auch ästhetisch etwas traut. Das Filmen von Kindern als
       Lustobjekte, die sie aus der Perspektive des Pädophilen sind, ist nicht
       unheikel. Das Filmen des Internets – von Menschen also, die stumm vorm
       Computer sitzen – ist ein weitgehend ungelöstes Problem.
       
       Sara und der Lehrer sitzen vorm Computer: Sie sitzen einander unterm
       Sternenzelt gegenüber und sprechen miteinander durch eine Art digitale
       Membran. Sara und Kevin sitzen einander in einer bonbonfarbenen Milchbar
       namens „Cat Bistro“ gegenüber, sie tragen Katzenmasken. Die Filmemacher
       gehen das Problem experimentell und referenziell an.
       
       Das Beste und Beängstigendste an dem Film aber ist, wie sie es schaffen,
       nicht nur die Psyche einer 13-Jährigen nachfühlbar zu machen, sondern auch
       die eines Pädophilen.
       
       28 Sep 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /!5260271/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Müller
       
       ## TAGS
       
   DIR ARD
   DIR Devid Striesow
   DIR Fernsehfilm
   DIR Missbrauch
   DIR Pädophilie
   DIR Arte
   DIR Antisemitismus
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Übertragungsrechte
   DIR Schwerpunkt Überwachung
   DIR ARD
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Arte-Film über Cybermobbing: Ein bisschen zu viel guter Wille
       
       In „LenaLove“ geht es um die Folgen des Cybermobbings. Doch der Film im
       Stil einer „Bravo“-Fotolovestory scheitert an seinem Anspruch.
       
   DIR ARD-Doku über deutschen Antisemitismus: Täter ohne Namen
       
       Er ist da. Mal verdeckt, mal offen. Immer bedrohlich. In der Doku „Jude.
       Deutscher. Ein Problem?“ fragt Uri Schneider nach Antisemitismus.
       
   DIR Trend „True Crime“-Formate: Mörder unter uns
       
       Auch Serienmacher haben entdeckt: Verbrechen verkaufen sich gut. Mit
       prominenter Besetzung startet nun ein weiteres „True Crime“-Format.
       
   DIR Fußball in der ARD: 133.827.693,8 Euro für die Bundesliga
       
       Laut internen Papieren zahlt die ARD ab 2017 mehr als 130 Millionen Euro
       für die Übertragung der 1. und 2. Liga. Dafür bekommt sie nicht viel.
       
   DIR Zeitung fordert Snowdens Verhaftung: Kein Pardon für die Washington Post
       
       Die „Washington Post“ fordert, dass Edward Snowden verurteilt wird. Der
       Snowden, der dem Blatt den Pulitzer-Preis eingebracht hat.
       
   DIR ARD-Chefin über Transparenz: Olympia? „Nicht zu jedem Preis“
       
       Die ARD-Chefin Karola Wille spricht über politische Pläne, ihr Gehalt,
       Sportrechte und die Honorare von Fußballexperten.