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       # taz.de -- Berliner Szenen: Die Krähe
       
       > Noch fast nackt
       
       Nach der Lesung in der Wohnung über dem Borchardt saßen wir noch zusammen,
       und Christian erzählte von dem veganen Kochbuch, das eine seiner
       Klientinnen demnächst rausbringt. Jule und ich waren uns einig, dass vegan
       für uns nicht infrage kommt, weil Fleisch einfach zu gut schmeckt. Klar,
       sagte Christian, aber darum gehe es nicht, es gehe natürlich um das
       Bewusstsein.
       
       Mir fiel die Sache mit der Amsel ein, als ich im Jahn-Sportpark frühmorgens
       mal eine Runde Laufen war. Ich war langsam gelaufen, getrottet, als ich die
       Amsel hörte. Laut schimpfend war sie vor mir im Gras gehockt. Ich war
       stehen geblieben. Was hatte sie zu meckern? Einen guten Meter entfernt war
       eine Krähe gesessen, über etwas gebeugt. Und dann hatte sie gehackt.
       
       Ich hatte erst gar nicht genauer hinschauen wollen. Doch die Amsel hatte
       wieder geschrien. Die Krähe war gerade dabei, ein Küken zu zerhacken. Ein
       Küken, noch fast nackt, ein Klumpen aus Fleisch, Blut und schwarzem
       Federflaum, mit einem weichen gelben Schnabel und einem riesigen,
       bläulichen Auge, das noch unter der Haut verborgen gewesen war. Die Krähe
       hatte gehackt. Die Amsel geschrien. Geklagt. Geweint. Ich war machtlos,
       benommen dabeigestanden und hatte geweint, eine Hand auf mein Herz gelegt,
       unter mein verschwitztes Funktionshemd, mit der Amsel um ihr Kind trauernd.
       Am Abend dann hatte Marin Ente süß-sauer von dem Laden unten bei uns im
       Haus mitgebracht. Mir war schlecht geworden.
       
       Nach der Lesung fuhren Christian und ich mit dem Fahrrad nach Hause, durch
       die Spätsommernacht. Wir radelten über die Ebertbrücke, mit Blick auf die
       Museumsinsel. Vom Dach des Bodemuseums löste sich ein riesiger Schwarm
       Krähen und folgte uns eine Weile über der Tucholskystraße.
       
       Jana Petersen
       
       24 Sep 2016
       
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   DIR Jana Petersen
       
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