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       # taz.de -- Regierungschef-Treffen in Bratislava: Was die Europäische Union zerreißt
       
       > Die EU ist gespalten: Verschiedene Blöcke streiten über Sparkurs und
       > Steuerdumping, Flüchtlingskrise und Ukrainekonflikt. Eine Analyse.
       
   IMG Bild: Nur noch eine leere Hülle? An den Rändern Europas wird sich nicht nur seine Humanität, sondern auch sein Zusammenhalt entscheiden
       
       Wien taz | Wenn sich die Regierungschefs und -chefinnen der EU am Freitag
       in Bratislava treffen, hat im Wiener Akademietheater eine neue Inszenierung
       des Shakespeare-Dramas „Coriolan“ Premiere. Passender könnte man die Krise
       der EU kaum künstlerisch begleiten. Es geht im alten Rom um Populismus,
       Macht und Ohnmacht des Volkes, Manipulation der Massen und Demokratie.
       
       Von der Finanzkrise über den verhinderten Kollaps Griechenlands, die
       Neuauflage des Kalten Kriegs anlässlich des Ukrainekonflikts bis hin zur
       Flüchtlingskrise: Die zentrifugalen Kräfte der EU haben zugelegt, die
       widerstreitenden Interessen unterschiedlicher Blöcke sich zugespitzt.
       Europa zerfällt wieder in Ost und West, in Nord und Süd, in stark und
       schwach, wirtschaftsliberal und protektionistisch, und bietet damit
       Populisten jeder Ausprägung einen perfekten Tummelplatz.
       
       Am meisten nervt die Visegrad-Gruppe, bestehend aus Ungarn, Polen,
       Tschechien und der Slowakei, die dem despektierlichen Begriff Ostblock zu
       neuer Gültigkeit verholfen hat. Die Rechtspopulisten in Budapest und
       Warschau sind sich mit den Linkspopulisten in Prag und Bratislava
       weitgehend einig, dass sie aus Brüssel zwar gerne Subventionen und
       Förderungen, aber bitteschön keine demokratiepolitischen Mindeststandards
       wollen. Sie spielen alle auf der Klaviatur des Nationalismus und
       profilieren sich innenpolitisch mit einer Trotzhaltung gegenüber der EU.
       Das schon 1991 gegründete Bündnis sollte bei der gemeinsamen Bewältigung
       der Transformation zum Kapitalismus helfen. Es ist heute aktiver denn je.
       Österreich, Kroatien und Serbien werden zum Beitritt ermuntert.
       
       Am krassesten zeigt sich der Abgrund zwischen dem „alten“ Europa und den
       neueren Mitgliedern bei der Flüchtlingsfrage. Während Viktor Orbán und
       Konsorten um die „rassische Reinheit“ ihrer Völker fürchten, sieht
       Deutschland im Massenzuzug eine Chance, die sich mittel- bis langfristig
       ökonomisch rechnen soll. Wolfgang Schäuble vertrat in der Zeit sogar die
       These: „Die Abschottung ist doch das, was uns kaputtmachen würde, was uns
       in Inzucht degenerieren ließe. Für uns sind Muslime in Deutschland eine
       Bereicherung unserer Offenheit und unserer Vielfalt.“ Nach den
       Terroranschlägen von Menschen mit muslimischem Hintergrund klingt das
       vielen wie ein Hohn. Und Österreich kann eine humane Position nur halten,
       weil derzeit weniger Asylsuchende kommen.
       
       ## Nicht in „Inzucht degenerieren“
       
       Die vielzitierte Achse Paris–Berlin ist nur politisch belastbar.
       Wirtschaftlich steht der fiskalische Zuchtmeisterkurs Schäuble/Merkel gegen
       die Politik der Neokeynesianer der Mittelmeerländer, die zu viel Sparen für
       verderblich halten. Was in Deutschland makroökonomisch aufgeht, ist für die
       Volkswirtschaften Italiens oder Frankreichs keine praktikable Lösung.
       Spaniens Nochpremier Mariano Rajoy bildet da die Ausnahme, doch sieht er
       sich längst einer Mehrheit links der Mitte gegenüber, die eine neue
       konservative Koalition verhindert und aus dem Austeritätskurs ausbrechen
       will.
       
       Bei den Verhandlungen über das transatlantische Handelsabkommen TTIP tritt
       die EU nur scheinbar geeint auf, weil die Kommission ein Verhandlungsmandat
       hat. In den einzelnen Staaten haben sich aber immer mehr Regierungen von
       den Protestbewegungen überzeugen lassen, dass mit dem Abkommen vor allem
       die Konzerninteressen bedient werden. Die bedingungslosen Fans des
       Freihandels sind vor allem im „Ostblock“ zu finden, dem die Liberalisierung
       nach den Jahrzehnten der von Moskau diktierten Planwirtschaft gar nicht
       weit genug gehen kann.
       
       ## Nationale Egoismen sind nicht leicht zu bekämpfen
       
       Dass Steuerdumping zulasten der anderen Mitgliedsländer eine
       Wirtschaftsstrategie sein kann, bewies Irland mit seiner Weigerung, von
       Apple die 13 Milliarden Steuerschulden anzunehmen, die die EU einfordert.
       Eine gemeinsame Fiskalpolitik scheint daher derzeit genauso weit entfernt
       wie eine gemeinsame Asylpolitik.
       
       Die EU gibt dank der von Juncker getadelten „nationalen Egoismen“ ein
       verheerendes Bild ab. Für Generationen, die den Krieg nicht kennen, ist das
       Beschwören des Friedensprojekts Europa leeres Gefasel. Es schlägt die
       Stunde der Populisten, die in einigen Staaten schon regieren und in fast
       allen anderen an die Macht drängen.
       
       15 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Leonhard
       
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