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       # taz.de -- Sexuelle Gewalt in Notunterkünften: Gefährliche Nähe
       
       > Die Polizei erschießt einen Flüchtling, der sich an einem anderen rächen
       > wollte: Der Mann hatte offenbar versucht, ein Mädchen zu missbrauchen.
       
   IMG Bild: Polizeieinsatz mit tödlichen Folgen: Beamte vor der Notunterkunft in Moabit.
       
       Normalerweise wuseln auf dem Platz vor den zwei weißen Traglufthallen in
       der Kruppstraße in Moabit viele Kinder herum, sie spielen und toben. Am
       Mittwoch Vormittag ist von den Mädchen und Jungen nichts zu sehen. Nur
       einige Männer sitzen auf Bänken vor der Notunterkunft zusammen, unterhalten
       sich leise. Gut möglich, dass die Eltern ihren Nachwuchs jetzt lieber nahe
       bei sich behalten: Am Vorabend soll ein aus Pakistan stammender
       Heimbewohner versucht haben, ein sechsjähriges irakisches Mädchen zu
       missbrauchen.
       
       Die Hallen liegen in einer Grünanlage. Zwischen Büschen und Bäumen gelangt
       man durch einen aufgerissenen Zaun zum benachbarten Supermarkt. Hier soll
       sich der 27-Jährige dem Mädchen genähert haben. Ein Zeuge sagte gegenüber
       Medienvertretern, er habe den Übergriff gesehen und in letzter Sekunde
       verhindert. Der mutmaßliche Täter wurde noch am Dienstagabend festgenommen.
       Als sich der Vater des Mädchens trotzdem mit einem Messer auf den im
       Polizeiwagen sitzenden Mann stürzen wollte, erschossen ihn die Beamten.
       
       „Es ist ein Familienvater gestorben. Die Menschen in der Unterkunft sind
       unglaublich traurig“, erzählt Heimleiter Mathias Hamann am Mittwoch. „Sie
       sagen, sie seien aus Syrien gekommen, um hier Schutz zu finden.“ Die
       Stadtmission, die die Unterkunft betreibt, versuche die Trauer mithilfe von
       Psychologen und Sozialarbeitern aufzufangen. Und sie muss weiteren
       Konflikten vorbeugen: Aus Sorge vor Streit zwischen den ethnischen Gruppen
       werden erst mal keine neuen Pakistaner in die Kruppstraße verlegt.
       
       ## Genaue Zahlen fehlen
       
       Jenseits dessen wirft der Fall auch eine grundlegende Frage auf: Begünstigt
       die Unterbringung in Notunterkünften sexuelle Übergriffe und Missbrauch?
       22.000 der insgesamt 49.000 Asylbewerber in Berlin leben nach wie vor in
       den eigentlich als Provisorien gebauten Heimen. Genaue Zahlen zu sexuellem
       Missbrauch in Flüchtlingsunterkünften gibt es nicht. Laut Annette Groth,
       der menschenrechtspolitischen Sprecherin der Linken im Bundestag, weiß man
       von 128 Missbrauchsfällen in Flüchtlingsheimen in ganz Deutschland im
       ersten Quartal dieses Jahres – wobei Experten von einer erheblichen
       Dunkelziffer ausgehen.
       
       „Viele Notunterkünfte sind regelrechte Angsträume, gerade für Kinder und
       Frauen“, sagt Katharina Mühlbeyer vom Berliner Flüchtlingsrat. Tatsächlich
       gibt es in den Unterkünften in der Regel keine abschließbaren Schlafzimmer,
       oft nicht mal sogenannte geschützte Räume, etwa Spielzimmer oder Zimmer für
       Frauen. Sogar Waschräume sind nicht immer abschließbar.
       
       Und selbst wenn: Der nächtliche Gang auf die Toilette sei in einer
       Massenunterkunft niemals ganz sicher, sagt Christiane Beckmann von „Moabit
       hilft“. „Wenn so viele Menschen auf engstem Raum zusammenleben müssen,
       potenziert sich die Gefahr natürlich.“ Beckmann hört von Flüchtlingsfrauen
       „häufig“ Klagen über sexuelle Übergriffe in Heimen. „Das reicht von
       verbalen Attacken über nächtliche Besuche in den Schlafbereichen bis hin zu
       körperlichen Angriffen.“ Die Täter seien sowohl Security-Mitarbeiter als
       auch Mitgeflüchtete – oder sogar Heimmitarbeiter.
       
       Ähnlich äußert sich der Linkspartei-Abgeordnete Hakan Tas: „Eine
       vernünftige Unterbringung ist das beste Sicherheitskonzept.
       Massenunterkünfte wie die in der Kruppstraße schaffen Probleme.“
       
       In den Traglufthallen in Moabit wohnen derzeit 250 Menschen. Manche sind
       Heimleiter Hamann zufolge nur einige Tage da, andere mehrere Monate. Sie
       stammen aus Syrien, Irak, Afghanistan, Pakistan, aber auch aus Ostafrika
       oder Moldau. Mehrere Sozialarbeiter und Community-Manager kümmern sich um
       die Flüchtlinge.
       
       In der einen Halle sind Familien untergebracht, in der anderen
       alleinreisende Männer. Alle Bewohner begegnen sich aber beim Essen und im
       Aufenthaltsbereich. Es werde kontrolliert, dass kein Fremder die Hallen
       betritt. „Aber die Unterkunft ist offen. Die Bewohner können raus- und
       reingehen, wie sie wollen“, sagt Hamann.
       
       Der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen
       Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, fordert die Bundesregierung nach
       dem Vorfall erneut auf, schnellstens höhere gesetzliche Standards zum
       Schutz vor sexueller Gewalt in Flüchtlingsunterkünften auf den Weg zu
       bringen. „Nach wie vor hängt es vom Zufall oder Engagement einzelner
       Betreiber ab, ob Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Mädchen und
       Jungen in den Unterkünften eingehalten werden“, so Rörig zur taz.
       
       ## Nein zu sagen fällt schwer
       
       Auch Bianka Pergande von „Save the Children“ fordert verpflichtende
       Schutzstandards. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz mache Betrieben wie
       Kitas, Schulen und Heimen strenge Auflagen, etwa bezüglich Personal und
       Zugang zu den Kindern. Für Sammelunterkünfte gelte es aber nicht. „Das ist
       eine Diskriminierung von Geflüchteten“, findet sie. Flüchtlingskinder seien
       auch deshalb besonders in Gefahr, Opfer von Missbrauch zu werden, weil ihre
       innere Widerstandsfähigkeit wegen ihrer Fluchtgeschichte oft niedriger sei
       als bei Kindern, die in sicheren Verhältnissen aufwachsen. „Sie haben nicht
       unbedingt gelernt, Nein zu sagen.“
       
       Am Mittwoch steht auch Sascha Langenbach, Sprecher des Landesamts für
       Flüchtlingsangelegenheiten, vor der Unterkunft an der Kruppstraße. Er will
       nichts davon wissen, dass sexuelle Gewalt in Flüchtlingsunterkünften eher
       ein Thema sei als anderswo. Missbrauch komme in jeder gesellschaftlichen
       Schicht und Gruppe vor, so Langenbach. In einer offenen Unterkunft gebe es
       sogar mehr soziale Kontrolle als anderswo. „Unser aller Pflicht es ist,
       immer auf Hinweise zu achten.“
       
       28 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Antje Lang-Lendorff
   DIR Susanne Memarnia
       
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