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       # taz.de -- Kolumne German Angst: Von Dinter zu Scheuer
       
       > Wenn man in einer sibirischen Bibliothek am Tag der Deutschen Einheit auf
       > antisemitische Propaganda stößt – dann passt das schon zusammen.
       
   IMG Bild: New York, Rio, Sibirien: Andreas Scheuer, CSU-Generalsekretär, ist immer top-integriert.
       
       Es ist Montag der 3. Oktober und ich befinde mich jenseits der deutschen
       Realität. Weit weg von Dresden. 5.065 Kilometer östlich, um genau zu sein.
       Trotz des dichten Nebels kommt mir Nowosibirsk nicht so trostlos vor wie
       Dresden. Hier nämlich macht sich niemand Gedanken darüber, ob es sich nun
       gehört, die deutsche Nation eben dort zu feiern, wo in ihrem Namen
       Sprengstoffattentate verübt werden, um Menschen zu töten, die man nicht zur
       deutschen Nation zählt.
       
       Heute Morgen allerdings hätte Deutschland kaum näher sein können. Zwischen
       den europäischen Klassikern, zwischen Tolstoi, Leskow, Proust und Gide
       stieß ich in der Bibliothek auf ein in Leinen gebundenes Buch. Genauso
       abgegriffen wie die anderen zwar, aber doch ganz anders: „Die Sünde wider
       das Blut“ von Artur Dinter.
       
       Der völkisch-deutsche Bildungsroman schlechthin. Es war das einzige
       deutschsprachige Buch in Regal. 1917 erschienen, wurde er zu einem
       absoluten Bestseller. Der Inhalt ist schnell erzählt: Elisabeth, die blonde
       Verlobte des Helden Hermann Kämpfers, lässt sich in Gedanken auf einen
       jüdischen Baron ein, und gebiert der Nation ein Kuckuckskind, unrein,
       hässlich und verkommen.
       
       Der Roman ist ein simples Lehrstück, auch über heutige kollektive Affekte:
       Denn als damals die Gesellschaft durchlässiger wurde, Frauen in die
       Öffentlichkeit drängten, die deutschen Juden die Gettos verließen und
       ununterscheidbar wurden, war die Reaktion so: Zuerst markierte man sie mit
       Gewalt, dann stieß man sie aus. Dann ermordete man sie.
       
       Was wäre auch die Alternative vor dem Hintergrund einer Idee, die die
       Gesellschaft nicht als Gesamtwert von Individuen begreift, sondern als
       organischen Körper, als ein Projekt eben nicht zur Befreiung sondern der
       Sorge um Reinheit? Die Infiltrierung schließlich geschieht ununterbrochen
       und die Unreinheit des Volkes ist nicht sichtbar.
       
       ## Homogener Organismus
       
       Jene Idee der Nation als ständig bedrohter, homogener Organismus ist in
       Deutschland nie verschwunden, in den vergangenen Monaten aber vom
       politischen Rand zurückgekehrt in die Mitte der Gesellschaft; dorthin, wo
       man sein Herz auf der Zunge trägt.
       
       Jene völkische Idee, auf die Frauke Petry sich bezieht und die sich nicht
       übersetzen lässt – völkisch bleibt deutsch, selbst im Russischen oder
       Französischen. Hierauf basiert die Vorstellung der „Umvolkung“, die dei
       CDU-Bundestagsabgeordnete Bettina Kudla von der Straße zurück ins Parlament
       getragen hat.
       
       Artur Dinter, der uns gezeigt hat, dass sich selbst der Gedanke an die
       Vermischung rächt, ist ziemlich lebendig. Denn wenn CSU-Generalsekretär
       Andreas Scheuer Menschen, die gegen alle Widrigkeiten zum Teil der
       deutschen Gesellschaft geworden und also auf dem Weg in die Akzeptanz, die
       Ununterscheidbarkeit sind, als „das Schlimmste“ bezeichnet, ist dies
       Dinter’scher Klartext. Denn es bedeutet: Wir werden dich immer erkennen.
       Und: Die Forderung nach Integration war schon immer nur ein rhetorischer
       Kniff.
       
       Und nun: Feiern Sie schön weiter, denn vielleicht wird es Ihnen bald schon
       vergehen.
       
       3 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sonja Vogel
       
       ## TAGS
       
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