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       # taz.de -- Gericht erkennt Schadenersatz zu: Rollifahrerin kennt doch Schmerz
       
       > Vor sechs Jahren verunglückte eine Frau in Ratzeburg auf einem Parkplatz
       > für Behinderte. Bis die Stadt ihr Schadensersatz zahlen muss, war es kein
       > leichter Weg.
       
   IMG Bild: „Laut und nervig“: Angelika Mincke hat ihr Recht erstritten
       
       Hamburg taz | Angelika Mincke ist eine Kämpferin. Als HIV-Infizierte setzt
       sie sich für einen toleranteren Umgang mit den von der Krankheit
       Betroffenen ein. Das alles tut sie vom Rollstuhl aus. Bekannt geworden ist
       Mincke durch einen Unfall mit weit reichenden Folgen: Im November 2009
       stürzte sie auf einem öffentlichen Behindertenparkplatz und verklagte
       daraufhin die Stadt auf Schmerzensgeld. Doch das Landgericht Lübeck wies
       bereits die Prozesskostenhilfe ab, da ein Prozess um Schmerzensgeld wenig
       Aussicht habe, da Mincke „durch ihre Lähmung keine Schmerzen empfinden
       konnte“, so die Begründung. Nach sechs Jahren Rechtsstreit hat sie vor dem
       Schleswiger Oberlandesgericht nun recht bekommen.
       
       In Ratzeburg hatte Mincke damals ihr Auto auf einem Parkplatz für
       Behinderte abgestellt. Beim Umsetzen in den Rollstuhl rutschten auf dem
       Kopfsteinpflaster des historischen Marktplatzes die Räder weg. Mincke
       stürzte und brach sich das Sprunggelenk. Sechs Jahre lang zog Mincke vor
       mehrere Gerichte, stützte sich darauf, dass die Stadt Ratzeburg die
       Parkplätze als behindertengerecht ausgewiesen habe, obwohl diese überhaupt
       nicht behindertengerecht seien.
       
       ## Parkplatz war nicht behindertengerecht
       
       Die Richter folgten ihrer Argumentation nicht. In der Streitfrage – ob ein
       Parkplatz mit Kopfsteinpflaster denn nun behindertengerecht sei oder nicht
       – argumentierten das Lübecker Land- und das Schleswiger Oberlandesgericht,
       dass auch Mincke bei der Parkplatzwahl in der Verantwortung sei. So hätte
       sie, indem sie einen Parkplatz mit Kopfsteinpflasterbelag ansteuerte, eben
       fahrlässig gehandelt. Denn: Das raue Kopfsteinpflaster sei „unschwer und
       offensichtlich erkennbar; die Gefahr warnte ausreichend vor sich selbst“,
       so das Gericht.
       
       Außerdem seien Mincke die lokalen Begebenheiten bekannt und sie
       dementsprechend mit den Gefahren des Parkplatzes vertraut. Damit schien der
       Fall zunächst passé, weil das Oberlandgericht Schleswig die Causa für
       endgültig beendet erklärt hatte. Das hielt Mincke aber nicht davon ab, vor
       dem Bundesverfassungsgericht Klage einzureichen.
       
       ## Behinderte sind „laut und nervig“
       
       „Wir sind laut, nervig, wenn wir auf Widerstand stoßen, löst dies
       automatisch bei uns den Kampfgeist aus“, erklärt Mincke im Onlinemagazin
       „Rollingplanet“. Tatsächlich entschied das Bundesverfassungsgericht im
       April, die Klägerin habe ein Recht auf Berufung. Gestern fand sich Mincke
       mit ihrem Anwalt Oliver Tolmein also erneut vor dem Oberlandesgericht
       Schleswig ein. Und siehe da: Dieses Mal schlug das Gericht einen Vergleich
       vor. Die Begründung: Entscheidend komme es aber darauf an, dass der Belag
       sowohl nach den 2009 geltenden DI-Normen als auch nach der mittlerweile
       geltenden Norm ein gefahrloses Aussteigen nicht ermöglicht habe und die
       beklagte Stadt damit gegen ihre Verkehrssicherungspflicht verstoßen habe.
       
       Mincke erhält nun 4.000 Euro Schadensersatz, die Verfahrenskosten übernimmt
       zu 80 Prozent die Stadt.
       
       Tolmein begrüßte diesen Ausgang: „Behindertenparkplätze mit
       Kopfsteinpflaster gehören damit hoffentlich endgültig der Vergangenheit
       an“, sagte er. Das Bundesverfassungsgericht habe mit seiner Entscheidung
       deutlich gemacht, dass Parkplätze, die extra für Menschen mit Behinderung
       zur Verfügung stehen, sie nicht gefährden dürfen. Für den Anwalt zeige das
       Verfahren auch, wie wichtig die Möglichkeiten der Verfassungsbeschwerde
       seien: „Ohne die Entscheidung der Verfassungsrichter wäre die Klägerin hier
       von der ordentlichen Gerichtsbarkeit ihrer Rechte vollständig beraubt
       worden.“ Das Kämpfen hat sich für Mincke gelohnt.
       
       4 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR David Joram
       
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