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       # taz.de -- Armutsflüchtlinge in Südosteuropa: Bulgarien, ihr Paradies
       
       > Mit 771 Euro Rente lebt es sich nicht gut in Hamburg, dachte Gerlinde
       > Weißach. Sie packte die Koffer und zog ans Schwarze Meer.
       
   IMG Bild: Sie googelte „Wenig Rente, wo kann man leben?“, und bekam Bulgarien als Treffer angezeigt
       
       Kawarna taz | 3.500 Euro wollte eine Umzugsfirma. So viel hatte Gerlinde
       Weißach* nicht. Also sprach sie zwei Roma an, die mit einem kleinen Bus
       zwischen Hamburg und Bulgarien hin- und herfuhren. „Da brauchen wir uns
       nicht drüber zu unterhalten, was die Leute dazu gesagt haben“, sagt
       Weißach. Aber die Leute, ihre Freunde in Hamburg, hielten ihren Plan
       ohnehin für verrückt.
       
       Zwei Wochen später saß Weißach auf der Rückbank des Busses der beiden,
       neben ihr eine Romni aus Wilhelmsburg, die in Bulgarien verheiratet werden
       sollte. Ihr Konto hatte Weißach leergeräumt und das Geld in den Bund ihrer
       Leggings eingenäht. Jetzt aber dachte sie, dass sie eher an einer
       Rauchvergiftung sterben als dass sie ausgeraubt würde, die beiden rauchten
       eine Zigarette nach der anderen. Sie fuhren die 2.700 Kilometer ohne
       größere Pause durch. Trotzdem kamen sie fast einen halben Tag zu spät an.
       Spät in der Nacht hatte sie mit den Roma alle Sachen die Treppe
       hochgetragen, es gab keine Heizung und so legte sie sich mit Mütze, Schal,
       Wintermantel und Handschuhen unter zwei Bettdecken. Sie fror trotzdem,
       weinte, aber sie dachte: „Jetzt bist du da.“
       
       21 Monate später sitzt die 61-jährige Frührentnerin auf der Terrasse ihrer
       lindgrünen Villa in der Fußgängerzone von Kawarna, 11.000 Einwohner, ganz
       im Norden der bulgarischen Schwarzmeerküste. Sie trägt Puma-Stiefel mit
       Goldabzeichen. Gerlinde Weißach ist nicht ihr richtiger Name, den will sie
       nicht in der Zeitung lesen, dass die Leute sie nicht googeln und das alte
       Leben ins neue hineinreicht. Weißach sagt, sie lebe hier „wie im Paradies“.
       
       Das Haus war das erste, das sie sich anschaute. „Es gibt keinen Zufall, nur
       Schicksal.“
       
       Die Wohnung ist jetzt voll eingerichtet, dekoriert mit ihren eigenen
       Bildern, gute 100 Euro Miete. „Einmal im Monat muss von oben bis unten
       richtig geputzt werden.“ Allein schafft sie das nicht, „aber ich habe eine
       Putzfrau. In Deutschland hätte ich höchstens als Putzfrau arbeiten können.“
       10 Euro gibt sie der, „das ist mehr, als andere bezahlen.“
       
       ## Täglich Talkshows schauen?
       
       In Hamburg „konnte ich am Café höchstens mal vorbeilaufen,“ hier setzt sie
       sich rein, jeden Morgen, in das kleine Bistro am Ende der Straße und
       bestellt einen Espresso. Sie isst gern Obst, sagt sie, das Kilo Kirschen
       kostet 1,80 Euro – in Hamburg waren es 6,90 Euro. Essen gehen, bei der
       Muschelbank, unten, am Meer, 3 Euro. Sie kann verreisen, sagt Gerlinde
       Weißach. Sie war jetzt schon mehrmals in Rumänien, St. Petersburg,
       Moldawien, bald will sie in die Mongolei. Der Hund kriegt Reis mit
       Hähnchen. „Kann man sich alles erlauben hier“, 35 Cent das Kilo. Keine
       Fernsehgebühren, keine Hundesteuer. „Da kann ich sogar noch was sparen.“
       Bald will sie sich einen Laptop kaufen.
       
       In Hamburg war das nicht so. 771 Euro Rente und 491 Euro kostete die
       Dreizimmerwohnung in St. Pauli. „Und das war schon günstig da.“ Wenn die
       Fixkosten bezahlt waren, blieben 120 Euro übrig. Gerlinde Weißach musste
       Lebensmittel von der Armentafel beziehen. „Wenn mal was kaputt war, das war
       ein Grund, in Tränen auszubrechen, das hat an den Nerven gezerrt.“ Sie
       hätte in eine Hochhauswohnung ziehen können, aber da wollte sie nicht
       „versauern, den ganzen Tag Talkshows gucken“. Irgendwann sagte ihr Sohn zu
       ihr: „Ich kann das Wort Geld von dir nicht mehr hören“, und dann gab sie
       bei Google ein, was sie wissen wollte: „Wenig Rente, wo kann man leben?“,
       und Google zeigte ihr Seiten an, auf denen Auswanderer geschrieben hatten,
       dass Bulgarien ein solcher Orte sei.
       
       Früher hatten Bekannte der Alleinerziehenden geraten, doch dort mal Urlaub
       zu machen, während ihr Sohn mit einer Jugendgruppe verreist, es sei günstig
       dort. „Ich bin doch nicht verrückt, so trist und das ganze Sozialistische“,
       hatte Weißach da gesagt. Aber später dann las sie, dass die deutschen
       Auswanderer in Bulgarien ganz zufrieden waren, und 2011 buchte sie eine
       Pauschalreise zum Goldstrand und verabredete sich mit einem deutschen
       Pärchen, dass seinen Lebensabend dort verbringt.
       
       Nachdem sie das erzählt hat, geht sie hinein in die Wohnung und kommt
       zurück auf die Terrasse und legt ihren deutschen Ausweis von 2011 und den
       bulgarischen von 2014 nebeneinander. „Da sehe ich doch verhärmt und
       vergrämt aus“, sagt sie, „aber da“, sie deutet auf den Ausweis aus
       Bulgarien, „sehr erholt“.
       
       ## Schiffsstewardess und Gewerbekauffrau
       
       Sie stammt aus Bünde. Als sie jung war besuchte sie in Osnabrück
       Jazzlokale, irgendwann zog es sie nach Costa Rica, Schiffsstewardess, am
       Ende geht sie nach Hamburg. Ein Mann aus Sri Lanka ist der Vater ihres
       Sohnes, Weißach ist fast 40, als er geboren wird, Kaiserschnitt. Es gibt
       einen Narkoseunfall, Intensivstation, Koma. Sie erholt sich nie wieder. Sie
       arbeitet bei einem Ölhändler, später als „Gewerbekauffrau“. Weißach
       inseriert in Partnerbörsen für Auswanderer, Überschrift: „Letzte Liebe
       gesucht“. Sie zieht ihren Sohn allein groß, jahrelang Therapie, mit 54
       stuft die Sozialversicherung sie endgültig als Rentnerin ein. Gute zwanzig
       Jahre hat sie in ihrem Leben gearbeitet. „Ich mache nicht den Staat
       verantwortlich, ich habe selbst nicht genug vorgesorgt“, sagt sie.
       
       Sie nimmt den Hund an die Leine, wie jeden Abend läuft sie über die
       Betonplatten der Fußgängerzone, vorbei an den Postern für die
       Mixed-Martial-Arts-Schaukämpfe in der Kreisstadt, die an den Schaufenstern
       der leeren Geschäfte hängen. Jedes Mal, wenn ein Bekannter sie mit dem Auto
       zum Großmarkt in Varna mitnimmt, „bin ich froh, zurückzukommen. Die
       Großstadt erschlägt mich“, sagt sie.
       
       In Deutschland hat sie bei der „Börsenastrologin Iris Treppner“ ein
       Zertifikat gemacht, Wahrsagerin nach dem „Lenormand“-Kartenlegesystem.
       Manchmal arbeitet sie für eine Hotline, 1,86 Euro die Minute. „Ich sage
       denen aber immer: Es ist ein Spiel, zur Inspiration.“ Jeden Tag legt sie
       sich selber auch die Karten. „Wenn ich abends noch mal draufschaue, dann
       stimmt das fast immer.“ Nur die Karten zu ihrem rumänischen Freund, die
       liegen auf „Kein Wiedersehen“.
       
       ## „Das kann mein Kopf nicht“
       
       Bulgarisch kann sie nur verstehen, nicht sprechen. „Es ist die
       achtschwierigste Sprache auf der Welt. Was du abends lernst, ist morgens
       aus dem Kopf raus“, sagt sie. Bulgarischunterricht gibt es hier nur auf
       Englisch. „Das kann mein Kopf nicht.“ Vor zwanzig Jahren, glaubt sie, hätte
       sie es gepackt. Sätze, Einkaufslisten schreibt sie deshalb vom
       Google-Translator mit der Hand ab. „Wenn man es fast täglich macht, geht es
       in Fleisch und Blut über.“
       
       Am nächsten Tag Mittagessen im Bistro am Ende der Fußgängerzone. Weißach
       bestellt: Makrele gegrillt, Krautsalat, Karamellpudding, ein
       Aloe-Vera-Drink „mit Stückchen“. 1,90 Lewa, umgerechnet 97 Euro-Cent. „Das
       ist so günstig“, sagt sie. Eine Freundin ruft an. Bei einem Straßenhund in
       der Kreisstadt Dboritsch, 55 Kilometer entfernt, hat sich die Pfote
       entzündet. „Von 100 Hunden sterben 63 an Infektionen,“ sagt Weißach. Sie
       ruft eine andere Frau an, auch sie an die Schwarzmeerküste ausgewandert.
       „Streunerhilfe ohne Grenzen“ heißt die Initiative. Die Gegend ist voll mit
       Straßenhunden. „Langweiligwird’sda nie“.
       
       Trotz der Sprache hat sie mehr Kontakt mit Bulgaren als mit Deutschen.
       Touristen spricht sie nicht mehr an. „Welten trennen uns. Bei Bulgaren ist
       es genauso. Es ist, als ob ich mich in einer Zwischenwelt befinde.“ Es gibt
       einen Auswanderer-Stammtisch, aber die sind alle untereinander zerstritten.
       Eine ältere Frau hat sie kennengelernt. Aber die mag keine Hunde. Im Sommer
       war der Sohn hier, 14 Tage lang, zum ersten Mal, seit sie herzog. Und dann?
       „Mitte Oktober werden die Bürgersteige hochgeklappt.“ Sie male viel, doch
       im Winter sei es sehr einsam. „Deswegen hätte ich eigentlich ganz gern
       einen letzten Lebenspartner.“
       
       Die Bulgaren in ihrem Alter, die „sind wie bei uns 85-Jährige, die können
       nicht mit dem Computer umgehen.“ Sie sucht jemanden, der auch „das geistige
       Futter bietet“. Seniorenportale im Internet hat sie ausprobiert. „Aber die
       meisten haben sich letzten Endes nicht getraut.“ Zwei Stunden täglich
       übersetzt sie mit Google die Briefe von einem Boxer aus Rumänien, eine alte
       Liebe. „Du bist frei, du musst nicht auf mich warten“, schrieb er einst.
       Trotzdem schickt er ihr jeden Tag eine Mail. „Und so habe ich nie den Kopf
       frei für andere Männer.“
       
       ## Nie wieder Deutschland
       
       Aber trotzdem geht es ihr gut. Auch, wenn man das Leitungswasser in Kawarna
       nicht trinken kann und sie die 10-Liter-Kanister die kleine Treppe
       hochtragen muss. Auch wenn der Strom immer wieder ausfällt. „Es gibt im
       Leben nichts umsonst, das ist der Preis, den ich bezahlen muss.“ Nach
       Deutschland will sie nie zurück. „Ich kriege ganz komische Gefühle, wenn
       ich daran denke. Ich hab schon mal geträumt, ich müsste zurück. Das waren
       keine guten Träume.“ Es gibt in Hamburg „viele Leute, die gern gesehen
       hätten, dass das nicht klappt und ich reumütig zurückkomme“. Aber da müsste
       es schon schlimm kommen, gesundheitlich.
       
       Die deutsche Krankenversicherung wird direkt von der Rente abgezogen, 140
       Euro. Sie gilt auch im EU-Staat Bulgarien. „Aber das ist nur Theorie, dass
       unsere Karte hier funktioniert“, sagt Weißach. „Die meisten Praxen können
       die gar nicht lesen.“ Ihre zweite, bulgarische Versicherung kostet 80 Euro
       im Jahr, aber für viel kommt die nicht auf. Im staatlichen Krankenhaus muss
       jeder Patient nur zwei Lewa bezahlen, aber es hat bis heute keinen
       Narkosesaal und einen Krankenwagen, der nicht schon dreißig Jahre alt ist,
       gibt es erst seit Kurzem, und das nur, weil er aus Hameln gespendet wurde.
       
       Zur Not könnte sie sich auch eine Pflegerin leisten. „Das kann ich
       abzweigen von dem Geld.“ Falls es später schlimmer wird, hat sie auch schon
       einen Plan. Die Altenresidenz in Burgas heißt das „Grüne Haus“. Sie hat sie
       im Internet entdeckt. 350 Euro im Monat, „man darf nur nicht der totale
       Pflegefall sein.“
       
       *Name geändert
       
       20 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
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