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       # taz.de -- Debatte Liberale Demokratie: Mehr Licht für Europa
       
       > Die liberale Demokratie wurde einst als das Modell der Zukunft erachtet,
       > ein Selbstläufer, der die Welt erobern würde. Es lohnt sich dafür zu
       > kämpfen.
       
   IMG Bild: Bringt die Demokratie ins Stolpers: Donald Trump
       
       Nichts wäre einfacher und verlogener, als derzeit durch die Ruinen der
       Akropolis in Athen zu spazieren und von der glorreichen Demokratie zu
       reden, die einst in Europa erdacht wurde. Eine europäische Idee zwar, doch
       sind es die Vereinigten Staaten von Amerika, die im 20. und 21. Jahrhundert
       die Demokratie als Teil ihrer Mission in der Welt verstehen.
       
       Die Schatten, die dieses Sendungsbewusstsein in den letzten Jahrzehnten
       geworfen hat, sind bekannt. So wurde beim vierten Athens Democracy Forum
       der New York Times nicht gefeiert, sondern fünfhundert Denker aus der
       ganzen Welt inspizierten die Bedrohungen der Demokratie, diskutierten über
       die Rolle von Religion, Migration, Macht und Geld.
       
       Die liberale Demokratie wurde einst als das Modell der Zukunft erachtet,
       ein Selbstläufer, der die Welt erobern würde. Doch die Attraktivität dieser
       Herrschaftsform scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts nachgelassen zu
       haben: immer mehr autoritäre Regime, immer weniger Pressefreiheit auf allen
       Kontinenten. Früher reichte das Verlangen der Jugend nach Rockkonzerten, um
       Regierungen zu stürzen, heute wählen viele freiwillig die harte Hand. Bis
       sie nichts mehr zu wählen haben.
       
       Der Kapitalismus und die neoliberale Wirtschaftspolitik befinden sich
       weiterhin auf dem Siegeszug, doch mit ihnen eben nicht vor allem die
       Pressefreiheit, der Schutz der Menschenrechte, der allgemeine Wohlstand und
       die Macht des Rechtsstaats, sondern auch autoritäre Regime. Lässt sich noch
       etwas dagegen tun?
       
       Man könnte so ein elitäres Arbeitslabor, ausgerichtet von einem der
       führenden Printmedien dieser Welt, als Teil des Problems sehen:
       Journalisten, Politiker und Vertreter der Wirtschaft unter sich. Doch dafür
       sind die geladenen Redner zu intelligent, der Anspruch zu hoch. Der Glaube
       an die Rolle der Medien in funktionierenden Demokratien scheint hier
       ungebrochen; und der Journalist damit zur Haltung verdammt.
       
       ## Keine neutrale Berichterstattung mehr
       
       In diesen vier Tagen war mitzuerleben, wie die Redaktion der New York Times
       jene Position fand, die nur wenige Tage später auf ihrer Titelseite zu
       finden war: Im Falle Trumps werde fortan keine neutrale Berichterstattung
       mehr geleistet.
       
       In Athen wurde mehrfach Kritik geübt an einer Berichterstattung, die dem
       Unnormalen der Populisten zu neuer Normalität verhelfe. Business as usual
       gehe im postfaktischen Zeitalter nicht mehr. Dieser Schritt der
       Times-Redaktion sei das Ende des „Er sagt …, sie sagt …“-Journalismus,
       jubelte die Zeitschrift The Atlantic. Endlich ein Ansatz, nicht
       unfreiwillig Werbung für Trump zu machen.
       
       Das Fazit: Der kritische Journalismus dieser Zeit muss sich neu erfinden,
       wenn er sich nicht von Populisten instrumentalisieren lassen will. Wo in
       Deutschland, wo in Europa treffen sich Medienschaffende im Austausch mit
       anderen Denkern und Gestaltern weltweit, um ihre Rolle in den derzeitigen
       Entwicklungen zu reflektieren – und zu korrigieren? Es waren vier Tage
       Debatten über den Zustand Europas und der Welt. Aber auch Tage der Kraft
       des Dialogs und des Glaubens daran, dass es sich – gerade jetzt – zu
       kämpfen lohnt.
       
       Den Anfang damit machte der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman. Seine
       Unermüdlichkeit und Unversöhnlichkeit machen Hoffnung. Statt sich nur über
       Wirtschaft auszulassen, knüpfte er sich Trump vor und mit ihm die
       Berichterstattung seiner Medienkollegen. Obamas Wirtschaftsmaßnahmen
       zeigten messbare Erfolge, sagte er, und dennoch glaubten die Menschen
       Trumps Interpretationen der Lage der Nation.
       
       Schuld dafür gebe er Medien, die über Trumps Thesen berichteten wie üblich.
       Man könne jedoch auf Unnormales nicht mit normaler Berichterstattung
       reagieren. Und dann sagte er etwas – für einen Mann seines Fachs –
       Erstaunliches: Man erkläre den Zuspruch für Trump gerne damit, dass die
       Menschen in wirtschaftlich unsicheren Zeiten anfällig für Populisten seien;
       doch die neusten Zahlen über die USA gäben diese wirtschaftlich schwachen
       Zeiten nicht her.
       
       ## Ein schmerzhafter Seitenhieb
       
       In Wirklichkeit sei Trump ein Teil jener US-amerikanischen weißen
       Gesellschaft, die sich vor mehr Vielfalt fürchte: Furcht, es könne nicht
       mehr ihr Land sein. „Und in gewisser Weise“ hätten sie recht, schloss
       Krugman. Diese Wahl werde nicht durch Wirtschaftsfragen entschieden,
       sondern durch nationalistische Themen. Sie sei in diesem Sinne eher
       europäisch. Ein schmerzhafter Seitenhieb. Für beide Seiten des Atlantiks.
       
       Es wäre kein demokratisches Forum, wenn Roger Cohen, einer der führenden
       Meinungsmacher der Times, nicht andere Erklärungen hätte. Er sehe den
       kleinen Mann im Zentrum von allem. Die Basis jeder Demokratie sei der
       kleine Mann, der sein Kreuzchen mache. Ein Einzelner von ihnen möge ja
       falsch liegen, aber Millionen nicht. Cohen erinnerte an Churchill und wie
       er – nach seinem Sieg über Hitler – im Juli 1945 aus dem Amt gewählt wurde.
       
       Churchill habe den kleinen Mann samt seinem Wahlkreuz respektiert – weil
       das Gegenteil davon Tyrannei sei. Wähler senden mit ihrer Wahl eine
       Botschaft über das Leben, das sie führen, sagte Cohen. Und diese Botschaft
       sei in der letzten Zeit eine wütende gewesen. Die Eliten, nicht zuletzt
       jene, die von der New York Times in Athen zusammengebracht wurden, dächten
       vor allem an ihre eigenen Ziele und nicht an die des Volkes.
       
       Es sei das Zeitalter des Misstrauens. Noch nie sei Politikern so viel
       Misstrauen entgegen gebracht worden wie Clinton und Trump. Er zählte das
       weltpolitische Elend der letzten Dekaden auf, Syrien, den Dschihad, die
       Wirtschaftskrise in Griechenland. Das Säkulare kämpfe nun wieder gegen das
       Religiöse, das es überwunden zu haben glaubte.
       
       Und als wären diese fernen Krisen nicht genug, werde auf einmal Europa von
       einer neuen Rechten erobert, die sich gegen die Grundfesten der liberalen
       Demokratien stelle, die Europas Integration befördert hätten: den
       Freihandel, die Meinungsfreiheit, offene Grenzen, Rechtsstaatlichkeit,
       faktenbasierte Debatten. Doch demokratische Institutionen seien stabiler
       als das Ego eines Trump.
       
       ## „Demokratie muss jetzt liefern“
       
       Cohen äußerte einen der großartigsten Sätze dieser Tage: „Demokratie muss
       jetzt liefern – und zwar nicht nur an die Reichen, sondern vor allem an die
       Verletzlichsten.“ Die Unsicherheit der Verlierer habe zum Brexit geführt.
       Cohen sagte von sich, er glaube dennoch an die Widerstandsfähigkeit der
       liberalen Demokratie, denn keine autoritäre Herrschaft könne die Sehnsucht
       der Menschen nach Freiheit kontrollieren.
       
       Es ist dieser Glaube an die Neuerfindung, an das Wiederauferstehen, der
       europäischen Denkern derzeit zu fehlen scheint, allem voran einem
       Houllebecq, der jüngst den Schirrmacher-Preis erhalten hat. In Athen waren
       Denker zu erleben, die den Niedergang weder beschreiben noch herschreiben
       wollen, sondern die Geschichte der Menschheit auch nach Erfolgen
       durchsuchen. So erinnerte Cohen zuletzt daran, dass auch Churchill nicht
       auf ewig vom kleinen Mann verbannt, sondern 1951 demokratisch wiedergewählt
       wurde.
       
       ## Dünnhäutig und mächtig
       
       Es war das Gespräch von vier renommierten Frauen, unter ihnen Christiane
       Amanpour von CNN, das den Finger in eine alte demokratische Wunde legte:
       Woher kommt die neue Attraktivität der Big Men? Orbán, Erdoğan und auch die
       Faszination für Trump. Amanpour erzählte von einem Interview mit Erdoğan,
       als sie ihn fragte, weshalb er, der er so ein mächtiger Mann sei, denn so
       dünnhäutig auf Kritik reagiere. Woraufhin Erdoğan natürlich dünnhäutig
       reagierte. Sie sagte, es sei die Rolle der Medien, den dünnhäutigen,
       mächtigen Männern genau solche Fragen zu stellen. Sie zu entlarven. Alles
       andere sei eine Gefahr für die Demokratie.
       
       Auch Dimitris Avrampoulos, EU-Kommissar für Migration, plädoyierte am
       späten Abend leidenschaftlich: Migration sei so alt wie die Menschheit
       selbst, es könne nicht sein, dass Europa auf weltweite Krisen
       nationalistische Antworten gebe. Gefährlicher als der Terrorismus seien der
       Nationalismus, der Populismus und die wachsende Xenophobie. Die europäische
       Familie ließe sich im Stich.
       
       Auf eine Frage aus dem Publikum, weshalb diese europäische Familie die
       Sache nicht angehe, sondern sich auf Big Man Erdoğan verlasse, reagierte
       der EU-Politiker seinerseits eher dünnhäutig.
       
       Es war Ken Roth von Human Rights Watch, der mit sanfter Stimme daran
       erinnerte, dass sich nur wenige vor die Verletzlichen stellten, etwa Angela
       Merkel. Nach dem letzten Flüchtlingsgipfels in Wien bleibt die Frage offen,
       wer jetzt noch vor den Verletzlichen steht. Und ob es auf dem europäischen
       Kontinent in diesen Tagen nach Wien noch etwas dunkler geworden ist.
       
       1 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jagoda Marinić
       
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