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       # taz.de -- Besuch auf der Aussteigerinsel Bozcaada: Die andere Türkei
       
       > „Es fühlt sich an wie ein anderes Land,“ sagt ein Reisender. Wer von
       > Putsch und Terror die Nase voll hat, flüchtet sich auf die Insel
       > Bozcaada.
       
   IMG Bild: Urlaub von Erdogan: Im Sommer sammeln sich auf Bozcaada überwiegend inländische Touristen
       
       Bozcaada taz | Es ist genau zehn nach sechs, als die Sonne am
       gegenüberliegenden Ufer, über den Hügeln Trojas, aufgeht. Einige Zuschauer
       beginnen zu klatschen, der vortragende Dichter, Akgün Akova, setzt sich den
       Lorbeerkranz aufs Haupt und beginnt mit den ersten Versen aus Homers Ilias,
       22. Gesang. Abwechselnd lesen die rund 50 hier versammelten Homer-Freunde
       aus diesem Epos der europäischen Literatur. Es geht um Hektors Mut, Hektors
       Angst, Hektors Tod. Und alles, was in der Intellektuellenszene Istanbuls
       oder Ankaras Klang und Namen hat, ist an diesem Morgen dabei.
       
       Die aktuelle Türkei scheint in dem Moment sehr weit weg. „Bozcaada“, sagt
       Haluk Sahin, der die Lesung organisiert hat, „ist eine andere Welt“. Genau
       deshalb kommen die meisten hier auf diese Insel in der nordöstlichen Ägäis.
       Um der Welt des Putsches, der Verhaftungen, der Terroranschläge und der
       Angst um die eigene Zukunft wenigstens für kurze Zeit zu entgehen.
       
       Anders als die Urlaubsziele am türkischen Mittelmeer, wo in diesem Jahr die
       Touristen wegbleiben, ist Bozcaada im Sommer 2016 gut besucht. Allerdings
       sind es kaum ausländische Touristen, die sich auf die stets windige Insel
       verirren. Wer nach Bozcaada kommt, ist meist aus Istanbul oder Ankara,
       westlich-europäisch orientiert und gehört zu einem der linksliberalen
       Intellektuellenzirkel der beiden Metropolen. Bozcaada ist so etwas wie der
       westlichste, Griechenland am meisten ähnelnde Zipfel der Türkei – zumindest
       habituell.
       
       ## Keine Anmache
       
       „Endlich kopftuchfreie Zone“, sagt eine junge Frau aufatmend auf der Fähre,
       die unweit des antiken Troja in dem kleinen Ort Geiyikli zur Insel ablegt.
       „Hier ist zwar immer noch die Türkei“, sagt einer ihrer Mitreisenden, „aber
       es fühlt sich schon an wie ein anderes Land.“ Viele Frauen befinden sich
       unter den Touristen, denn auf Bozcaada können sie in Ruhe Urlaub machen;
       Anmache oder andere Belästigungen gibt es hier praktisch nicht.
       
       Braune, kahle Hügel, verkrüppelte Kiefern, der erste Blick auf die Insel
       ist nicht vielversprechend. Doch schon der Ort Bozcaada, das einzige
       Städtchen auf der Insel, die so klein ist, dass man sie an einem Tag mit
       dem Fahrrad leicht umrunden kann, widerlegt mit seinen liebevoll
       restaurierten Häusern im griechischen Stil rund um einen kleinen Hafen und
       einer alten Burg die äußere Ödnis. Im Schatten großer Platanen sitzen
       sowohl die einheimischen Fischer und Winzer als auch die Besucher vom
       Festland, der große Teegarten ist der Ort, an dem sich alles trifft.
       
       In den windgeschützten Tälern im Inselinneren wächst Wein, auf großen
       Plantagen werden die Reben für die besten türkischen Weine kultiviert.
       Daneben haben sich viele Hobby-Weinbauern auf der Insel niedergelassen, zu
       denen auch Haluk Sahin gehört, der Organisator der Homer-Lesung. Obwohl
       sich der kleine Mann mit den eisgrauen Haaren ein Haus inmitten seines
       Weinfeldes gebaut hat, trifft er sich zum Gespräch lieber im Ort, wo seine
       Frau eine Kunstgalerie betreibt.
       
       ## 50 griechische Familien gibt es noch
       
       „Bozcaada hat mir ein zweites Leben ermöglicht“, sagt der 75-Jährige, der
       vor mehr als 30 Jahren die Insel für sich als Alternative entdeckte. „Hier
       habe ich Abstand zum hektischen politischen Betrieb des Landes gewonnen.“
       Seit ein paar Jahren keltert der emeritierte Kommunikationswissenschaftler
       auch seinen eigenen Wein. „Shiraz“, sagt er genießerisch, „eine wunderbare
       Rebsorte, die hier sehr gut gedeiht.“
       
       Haluk Sahin ist so etwas wie der informelle Vorsitzende der Istanbuler
       Community auf der Insel. Es gibt nur wenige Aussteiger, die sich ganz auf
       der Insel niedergelassen haben und auch im Winter, wenn es einsam und
       stürmisch ist, ausharren; dafür wächst die Fangemeinde, die im Sommer das
       Eiland bevölkert. Für sie hat Haluk Sahin zwei Bücher über die Geschichte
       und Geografie der Insel geschrieben.
       
       Darin stellt er auch einige der griechischen Familien vor, die von der
       ursprünglichen Inselbevölkerung übrig geblieben sind. 1924 waren Bozcaada
       und Gökçeada, das griechische Imbros, im Friedensvertrag von Lausanne als
       einzige Ägäis-Inseln der Türkei zugeschlagen worden. „Knapp 50 griechische
       Familien leben immer noch hier“, sagt Sahin. Die meisten von ihnen sind
       ältere Leute. Viele Griechen aus Bozcaada sind nach Australien ausgewandert
       und kommen nur im Sommer zum Urlaub in ihre alte Heimat zurück.
       
       Haluk Sahin ist trotz seines Alters ein Energiebündel. In den Gärten der
       Galerie lädt er Freunde und Besucher gelegentlich zu kleinen
       Diskussionsrunden. „Wir reden über Poesie, Malerei, Geschichte, eigentlich
       über alles,“ erzählt Sahin amüsiert, „nur nicht über Politik oder Fußball,
       die beiden Themen, über die sonst in der Türkei immer geredet wird.“
       
       ## Optimismus versus Pessimismus
       
       Zwei Tage nach der Homer-Lesung macht Sahin allerdings eine Ausnahme von
       dieser Regel. Die Freunde aus Istanbul haben alle den Kopf so voll von den
       Ereignissen der letzten Wochen, dass sie über gar nichts anderes als
       Politik reden können. Der Putsch liegt noch nicht allzu lange zurück, immer
       wieder ist von Anschlägen, Zensur, drohenden Entlassungen oder gar
       Verhaftungen zu hören. Ein tiefer Pessimismus macht sich breit.
       
       Bis Haluk Sahin spricht. „Ich bin Optimist“, sagt er, „ich glaube an die
       demokratischen Kräfte in der Türkei.“ Der Putsch habe Erdoğan gezeigt, dass
       er gar nicht so mächtig sei, wie er zuvor geglaubt hat. Der Präsident müsse
       sich der Unterstützung der säkularen Opposition versichern, glaubt Sahin,
       und man sehe ja bereits, „dass die AKP nach dem Putsch viel
       kompromissbereiter ist, als sie es zuvor war“. Die meisten Anwesenden
       schütteln den Kopf, doch entspannt sich zumindest eine Diskussion, die über
       die Klage und das gegenseitige Versichern, wie schlimm alles sei,
       hinausgeht.
       
       Sahins Optimismus teilen die wenigsten. Sermin Akkay, die schon vor Jahren
       aus Istanbul weggezogen ist, hatte schon vor dem Putschversuch und den
       jüngsten Terroranschlägen von der Politik die Nase voll. Sie ist froh,
       während der letzten Wochen nicht in Istanbul gewesen zu sein. „Hier hat man
       von dem ganzen Schlamassel nicht viel bemerkt“, erzählt sie. „Der
       Polizeichef wurde abgesetzt, und die wenigen AKP-Anhänger, die es hier
       gibt, sind mit ihren Fahnen an einigen Abenden zum Marktplatz gezogen, aber
       das war’s dann auch schon.“
       
       ## Im Freiluftkino
       
       Sermin Akkay trifft man in ihrem Buchladen, den sie vor ein paar Jahren am
       Rande des Marktplatzes eröffnet hat. In den Bücherregalen steht nur, was
       die Inhaberin selbst gern liest, neben türkischer auch deutsche und
       englische Literatur. Akkay hat das Deutsche Gymnasium in Istanbul
       absolviert, anschließend aber Anglistik studiert. Sie ist eine taffe
       Feministin, die keine Kompromisse machen wollte und sich in Istanbul viel
       zu eingezwängt fühlte.
       
       Jetzt in den warmen Monaten, ist ihr Buchladen voll von Freunden und
       Freundinnen aus Istanbul, die nach dem Putschversuch für ein paar Tage oder
       Wochen nach Bozcaada geflüchtet sind. Von ihnen lässt die Buchhändlerin
       sich erzählen, wie es in ihrer alten Heimat Istanbul aussieht. Allzu genau
       will sie es sowieso nicht wissen, Fernsehen und Zeitungen hat sie längst
       abbestellt. Wie Haluk Sahin besitzt sie im Inselinnern ein kleines Haus mit
       Garten, in dem sie jeden Morgen arbeitet, bevor sie am Nachmittag ihren
       Buchladen im Städtchen eröffnet.
       
       Sermin Akkay ist Filmliebhaberin. Einmal pro Woche lädt sie im Sommer
       Freunde und Bekannte zum Freilichtkino in ihrem Garten ein. Allerdings ist
       ihr Geschmack etwas ausgefallen. Der dreistündige chinesische Kunstfilm im
       Original mit türkischen Untertiteln „war schon eine kleine
       Herausforderung“, erzählt sie mit einem kleinen Lachen – selbst für
       türkische Intellektuelle.Teil der europäischen geografie
       
       ## Teil der europäischen Geografie
       
       Bozcaada hat die Form eines Faustkeils, dessen Spitze direkt in die Weite
       der Ägäis hinausragt. Vorbei am ersten Windpark der Türkei, der Bozcaada
       komplett mit Strom versorgt, kommt man zu einem alten Leuchtturm, dem
       Polente Feneri, der an der Spitze dieses Keils steht. Hier versammeln sich
       im Sommer allabendlich bis zu hundert Menschen. Sie bringen Weinflaschen
       mit, manche haben sogar Tischdecken und Gläser dabei, um eine stilechte
       Verkostung des Bozcaada-Weins zu arrangieren.
       
       Zu sehen ist einer der spektakulärsten Sonnenuntergänge des Landes. So wie
       am frühen Morgen im Osten die Sonne über den Hügeln Trojas erscheint,
       verschwindet sie am Abend im Dunst der Ägäis weit hinten im Westen, da, wo
       Griechenland und Europa liegen. „Wir hier in Bozcaada“, sagt Haluk Sahin,
       „sind doch sowieso Teil der europäischen Geografie. Unsere Insel liegt auf
       der geraden Linie zwischen dem Olymp in Griechenland und dem Ida-Gebirge
       südlich von Troja.“
       
       Das Ida-Gebirge ist der Ort, wo Homer den jungen Paris zum Schiedsrichter
       des ersten Schönheitswettbewerbs der Geschichte machte. Er sollte zwischen
       den Göttinnen Hera, Athena und Aphrodite entscheiden und machte damit schon
       einmal zwei der drei Göttinnen zu Feindinnen Trojas.
       
       Auch Bozcaada, das bei Homer Ténedos heißt, spielt in der Ilias eine
       wichtige Rolle. Als Odysseus das Trojanische Pferd vor den Mauern der Stadt
       abstellen lässt und sich die griechische Flotte scheinbar zurückzieht,
       versteckten die Achaier ihre Schiffe in einer großen Bucht auf der
       Westseite der Insel. Die Bucht heißt heute Ayazma und ist der beliebteste
       Badestrand von Bozcaada.
       
       Der Strand ist in diesem Sommer gut besucht. Alle Liegestühle sind belegt.
       Man hat den Eindruck, dass viele Istanbuler noch einmal Kraft schöpfen
       wollen, bevor sie in den Alltag von Terror, Repression und drohender
       Verfolgung zurückkehren.
       
       27 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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