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       # taz.de -- Kommentar Teilhabegesetz: Zu hohe Erwartungen
       
       > Das Bundesteilhabegesetz enttäuscht viele Menschen. Entscheidend aber
       > wird die Praxis sein – und vielleicht wird noch größerer Protest nötig.
       
   IMG Bild: Reicht das oder braucht es noch mehr? Protest gegen das Teilhabegesetz am Donnerstag
       
       Blinde schwimmen in einer Protestaktion in der Spree, Rollstuhlfahrer
       ketten sich an. Der Protest gegen das Bundesteilhabegesetz, das jetzt in
       erster Lesung im Bundestag beraten wurde, ist hochemotional. Denn hier geht
       es um Menschen, die in der größtmöglichen Abhängigkeit vom Staat leben: Sie
       sind in ihrer unmittelbaren physischen Existenz auf zupackende Hilfe
       angewiesen, auf bezahlteAssistenzen.
       
       Der Staat entscheidet letztlich darüber, ob sie in der eigenen Wohnung
       leben können oder aus Kostengründen ins Heim geschickt werden, ob sie eine
       AssistentIn erhalten, die eine Arbeit ermöglicht oder ob sie zum Nichtstun
       und zur Isolation verurteilt sind. Menschen mit Behinderungen sind aufgrund
       dieser Abhängigkeit hochsensibel für mögliche Verschlechterungen, die sich
       einstellen könnten durch ein neues Gesetz.
       
       Das Bundesteilhabegesetz ist kein Spargesetz, sondern mit Mehrkosten
       verbunden. Doch es bietet für mögliche Verschlechterungen mehrere
       Einfallstore: Aufgrund der neuen Definition von „Behinderung“ könnten zum
       Beispiel bestimmte Gruppen von Leistungen der Eingliederungshilfe
       ausgeschlossen werden. Assistenzleistungen könnten „gepoolt“ werden, so
       dass sich Behinderte einen Helfer für bestimmte Aktivitäten mit anderen
       Gehandicapten teilen müssten.
       
       Und viele Erwartungen hat das Gesetz nicht erfüllt: bei Menschen mit
       Behinderungen, die Hilfe zur Pflege bekommen und nicht erwerbstätig sind,
       wird Einkommen und Vermögen auch eines Partners wie bisher mit der
       Sozialleistung verrechnet, unter Gewährung bestimmter Freibeträge. Genau
       dies gilt aber auch für alte Ehepaare, wenn ein Partner ins Pflegeheim
       muss, und für Haushalte im Hartz-IV-Bezug.
       
       ## Die Kriterien waren immer heikel
       
       An diesem Beispiel zeigen sich die Probleme jeder Behindertenhilfe: Man
       kann den horizontalen Vergleich mit anderen Bedarfsgruppen nicht außer Acht
       lassen. Es stimmt natürlich, Menschen mit schweren Handicaps sind
       schicksalsbetroffener als andere, ihre Partner leisten meist schon sehr
       viel unbezahlte Arbeit in der Betreuung und hätten eine völlig Freistellung
       ersparter oder ererbter Vermögen verdient, quasi als Schicksalsausgleich.
       Aber die Kriterien dafür wären immer heikel.
       
       Die Praxis in den Sozialbehörden wird zeigen, ob die Einfallstore im Gesetz
       für Verschlechterungen genutzt werden oder nicht. Ob Behinderte zum
       Beispiel weiterhin bei den Eltern ausziehen und eine Ausbildung machen
       können oder nicht. Das Gesetz verspricht mehr Teilhabe. Wenn das Rad in der
       Praxis aber zurückgedreht werden sollte, dann brauchen wir einen breiteren
       Protest.
       
       23 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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