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       # taz.de -- Ehrengäste auf der Buchmesse Frankfurt: Sie kennen sich nicht
       
       > Die Niederlande und Flandern sind Ehrengäste der Frankfurter Buchmesse.
       > Beste Freunde sind sie nicht. Kann sich das ändern?
       
   IMG Bild: Flandern und die Niederlande: Ehrengäste der diesjährigen Frankfurter Buchmesse
       
       Beispielsweise Reintje Gianotten und Victor Schiferli aus Amsterdam traf
       man in den vergangenen beiden Jahren an so ziemlich jedem Verlagsstand
       jeder Buchmesse. Sie arbeiten beim niederländischen Letterenfonds, der die
       Literaturförderung in unserem Nachbarland betreibt. Beide sind in der
       heimischen und deutschen Branche nicht nur extrem gut vernetzt, sondern
       haben aufgrund ihrer Literaturkenntnis auch eine genaue Vorstellung,
       welcher niederländische Titel in welchem deutschen Verlag funktionieren
       könnte, welcher Autor zu wem passt.
       
       Im Gepäck haben sie überdies ein Übersetzungsförderungsprogramm für
       niederländischsprachige Literatur, was es auch kleineren und kleinsten
       Verlagen erlaubt, bei der Jagd nach dem Autor, den man unbedingt machen
       will, mitzuhalten: Klassiker werden bei Übersetzungen ins Deutsche zu
       hundert Prozent, lebende Autoren zu einem Großteil gefördert.
       
       Ob die Arbeit der beiden Literaturförderer sich auszahlt, wird man kommende
       Woche sehen. Dann startet die Frankfurter Buchmesse, und die Region
       Niederlande und Flandern ist dieses Jahr Ehrengast. Was schließlich am
       Schluss herausschaut, weiß man natürlich nicht. Dass gleich der erste auf
       eine Region bezogene thematische Schwerpunkt einer Frankfurter Buchmesse –
       der legendäre Auftritt Lateinamerikas im Jahre 1976 – einen wahren Boom an
       lateinamerikanischer Literatur in ganz Europa entfesseln würde (allen voran
       Gabriel García Márquez mit seinen „Hundert Jahren Einsamkeit“), mag man
       damals gehofft haben; zu planen ist so etwas bis heute nicht.
       
       Ein guter Gradmesser für den Erfolg eines Gastlandauftritts ist immer, wie
       die deutschen Verlage auf das Thema einsteigen. Da gibt es in diesem Jahr
       kein Vertun: Allein die Titelzahl von 306 (und rechnet man übersetzte
       Kochbücher, Ratgeber und Ähnliches hinzu, kommt man sogar auf eine Anzahl
       von über 454 Titeln) signalisiert ein großes Interesse.
       
       ## Sogenannte kleine Sprachen
       
       Da die niederländische Literatur in den vergangenen zwanzig Jahren auch in
       Deutschland eine Reihe von Bestsellerautoren hervorgebracht hat, gibt es
       literarisch zahlreiche Anknüpfungspunkte, auf die die Verlage bauen können.
       Und nach dem eher flauen Indonesien-Schwerpunkt vergangenes Jahr sind die
       Verlage in diesem Jahr umso begieriger auf das publikumsträchtige Thema
       Flandern und Niederlande eingestiegen: Wagenbach hat für den
       Gastlandauftritt (der in der Letterenfonds-internen Abkürzung kurz und
       schmerzlos „F16“ heißt) eine eigene Taschenbuchreihe in spezieller
       Gestaltung (plus Plakat für den Handel) vorgelegt und schon im Vorfeld der
       Messe mit „Boy“ von Wytske Versteeg einen veritablen Bestseller gelandet.
       Einige Verlage haben zu Spitzentiteln (sogar bei Klassikern!) extra
       Broschüren produziert, um den Buchhandel einzustimmen.
       
       Seit etwa zwei Jahren läuft die Gastland-Vorbereitungsmaschinerie auf
       Hochtouren. Verlegerreisen in die Niederlande und nach Flandern wurden
       organisiert, und natürlich reisten auch niederländische
       Verlegerdelegationen nach Deutschland – mehr an Begegnungen unter Kollegen
       der herausgebenden Zunft ist kaum denkbar. Es folgten diverse Pressereisen.
       Workshops aller Art fanden statt, zahlreiche für Übersetzer, deren
       Auslastungsgrad in den vergangenen Jahren lässt sich denken. Und natürlich
       wurde auch an eine Kampagne für den deutschen Buchhandel gedacht.
       
       Für viele junge Autoren kommt „F16“ wie gerufen: Schriftsteller aus Ländern
       mit sogenannten kleinen Sprachen sind darauf angewiesen, durch Länder mit
       „großen Sprachen“ entdeckt zu werden und so vielleicht den Weg in die
       internationale Literaturarena zu finden. „In Holland bin ich weltberühmt“,
       hat der 2010 verstorbene Autor Harry Mulisch, einer der „Großen drei“ der
       niederländischen Nachkriegsliteratur (neben W. F. Hermans und Gerard Reve),
       einmal gewitzelt; für ihn traf das zwar explizit nicht (mehr) zu, aber in
       einem Land, wo pro Jahr 15.000 bis 16.000 neue Titel um die Aufmerksamkeit
       des Publikums (knapp 17 Millionen Einwohner in den Niederlanden, etwa 6
       Millionen in Flandern) buhlen, sich aber kaum mehr als 400.000 Exemplare
       eines Bestsellers verkaufen lassen, tut man gut daran, sich auch außerhalb
       der Grenzen auf dem Markt umzusehen.
       
       Maarten Asscher, heute Geschäftsführer der literarischen Buchhandlung von
       Amsterdam, Athenaeum (in diesem Jahr 50 Jahre alt geworden), muss es
       wissen, denn er hat auch 18 Jahre als Verleger bei Meulenhoff gearbeitet
       und einige Jahre im Kulturministerium. Als literarischer Buchhändler lässt
       es sich in den Niederlanden gut leben, findet er.
       
       ## Amazon ist kein Konkurrent
       
       Die Zeiten von großen Buchhandelsketten mit 4.000 Quadratmeter
       Verkaufsfläche seien vorbei – es lebe der Mittelstand! Konkurrenzdruck von
       Amazon gibt es nicht: Das Unternehmen ist erst 2014 in den Niederlanden
       gestartet und vertreibt da bislang nur E-Books. Die aber insgesamt – so
       viel noch zur Branche in unserem Nachbarland – mit weniger als 4 Prozent
       Marktanteil in der Branche keine große Rolle spielen: Der Niederländer
       hat’s gern gedruckt und liebevoll gestaltet – und er geht gern und oft in
       seine Buchhandlungen.
       
       1993 waren die Niederlande schon einmal Gastland der Frankfurter Buchmesse.
       Das war zu Zeiten, als heutige Bestseller-Autorinnen wie Connie Palmen oder
       Margriet de Moor an den Start gingen – sie sind durch dieses Frankfurter
       Messe-Schwerpunktthema auch schnell in Deutschland bekannt geworden.
       
       Diesmal liegt die Sache mit dem Schwerpunkt etwas anders: Niederländer und
       Flamen gestalten den Gastlandauftritt gemeinsam. Man muss kein Insider
       sein, um zu wissen, dass beide Länder einander – um es höflich zu
       formulieren – nicht sonderlich herzlich zugetan sind. Der Autor Marc
       Reugebrink, gebürtiger Niederländer, aber seit Jahren in Brüssel lebend,
       sagt es so: „Die Holländer wissen nicht, was die Belgier überhaupt tun, und
       letztlich ist es ihnen auch wurscht.“
       
       ## Gegenseitige Ignoranz
       
       Diese (allerdings gegenseitige) Ignoranz freilich hat ernste kulturelle
       Auswirkungen: 90 Prozent der flämischen Literatur aus flämischen Verlagen,
       sagt Reugebrink, kommt erst gar nicht über die niederländische Grenze –
       weshalb zahlreiche flämische Autoren hauptsächlich in niederländischen
       Verlagen publizieren, weil der flämische Markt allein viel zu klein ist,
       dass man als Autor davon seine Existenz bestreiten könnte. Und umgedreht
       ist es genauso.
       
       Man will es nicht glauben, aber das heißt konkret: Den Namen des
       angesagtesten Amsterdamer Autors hat man in Antwerpen noch nie gehört, und
       wer als Debütant gerade in Antwerpen durchstartet, findet keinerlei
       Beachtung in Amsterdam. „Die Länder wachsen auseinander“, so befürchtet
       Reugebrink, „und vielleicht bietet der diesjährige Gastlandauftritt für uns
       selbst die größte Chance, daran etwas zu ändern.“ Zwar hat es zahlreiche
       Programme gegeben, um den Dialog zwischen beiden Kulturnationen in Gang zu
       bringen – mit überschaubarem Erfolg. Vielleicht aber hilft gerade der
       gemeinsame „F16“-Auftritt dabei, alte Vorurteile und Animositäten
       abzubauen. Man kann es auch so sagen: Die beiden Gastländer haben in
       Frankfurt die Gelegenheit, einander kennenzulernen, wie auch der Rest der
       Welt.
       
       Da heutzutage alles unter dem Geräuschpegel von Events unbemerkt bleibt,
       reicht es natürlich nicht mehr, einfach ein großartiges Buchprogramm
       vorzulegen und Lesungen zu organisieren. So haben die Letterenfonds einen
       künstlerischen Direktor für den Frankfurter Auftritt eingesetzt, einen
       vielfach ausgezeichneten Kinder- und Jugendbuchautor und Dichter: Bart
       Moeyaert. Er ist übrigens Flame. Dass beide Letterenfonds einstimmig diese
       Wahl als die bestmögliche überhaupt bezeichnen, lässt hoffen: Vielleicht
       wird das Motto des gemeinsamen Auftritts, „Dies ist, was wir teilen“, in
       viel stärkerem Maße Programm, als man jetzt, kurz vor der Messe, denkt.
       
       16 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Faure
       
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