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       # taz.de -- Autor über den Spanischen Bürgerkrieg: „Ein außergewöhnlicher Moment“
       
       > Vor 80 Jahren erlebte Spanien ein anarchistisches Experiment, das von
       > rechten Putschisten beendet wurde. Autor Heleno Saña erinnert sich.
       
   IMG Bild: Szene aus dem Spanischen Bürgerkrieg
       
       Am 17. Juli 1936 putschten spanische Militärs unter General Franco gegen
       die linke Volksfrontregierung in Spanien. Aus dem Widerstand gegen den
       Putsch entwickelte sich eine soziale Revolution: Anarchisten besetzten
       Klöster und Kirchen und machten Krankenhäuser daraus. Sie kollektivierten
       die Wirtschaftszweige, übergaben die Lebensmittelversorgung einer
       Gewerkschaft. 
       
       Der Schriftsteller George Orwell schrieb später über diese Zeit: „Man hatte
       das Gefühl, plötzlich in einer Ära der Gleichheit und Freiheit aufgetaucht
       zu sein. Menschliche Wesen versuchten, sich wie menschliche Wesen zu
       benehmen, und nicht wie ein Rädchen in der kapitalistischen Maschine.“ Im
       Herbst 1936 wurde die Revolution von General Franco niedergeschlagen, und
       eine lange Zeit der Diktatur begann. 
       
       Der Schriftsteller Heleno Saña wurde 1930 in Barcelona geboren. Als der
       Bürgerkrieg begann, war er ein kleiner Junge. Sein Vater kämpfte gegen die
       rechten Putschisten. Heute lebt Saña in Darmstadt, von ihm sind über
       dreißig Bücher erschienen. Mit uns spricht er über die Macht der Utopie,
       über Whiskey in der Franco-Zeit und über seine Erinnerungen an einen
       anarchischen Sommer. 
       
       taz.am wochenende: Herr Saña, haben Sie Sehnsucht nach Spanien? 
       
       Heleno Saña: Ich habe mich an Deutschland gewöhnt, aber ich habe trotzdem
       Sehnsucht. Es gibt ein portugiesisches Lied, das ich in Spanien während der
       Franco-Diktatur oft gesungen habe und an das ich manchmal denke.
       Ladadalala. (Er singt.) Diese Melodie habe ich nie vergessen.
       
       War Musik damals wichtig für die Menschen? 
       
       Ja. Es gab ganz andere Musik als heute. Wir haben spanische und
       südamerikanische Volkslieder gehört. Wenn ich spazieren gehe, und das tue
       ich jeden Tag, singe ich immer. Die Deutschen singen nur im Chor, es muss
       geordnet sein, nichts ist spontan. Meine Mutter hat den ganzen Tag
       gesungen. Wir sagen auf Spanisch: Quien canta, sus males espanta. Können
       Sie damit etwas anfangen?
       
       Wer singt, vertreibt seinen Kummer? 
       
       Genau. Das stimmt zu hundert Prozent. Aber jetzt lassen Sie uns sprechen.
       
       Vor achtzig Jahren gab es in Spanien eine kurze Zeit der Anarchie. Vier
       Monate lang wurde eine politische Utopie Wirklichkeit. Sie waren damals
       sechs Jahre alt. Erinnern Sie sich noch an die Zeit? 
       
       Wir lebten damals in Mataró. Das ist eine industrielle Stadt bei Barcelona.
       Mein Vater war technischer Leiter einer Glasfabrik. Meine stärkste
       Erinnerung an diese Zeit ist, dass die Stadt fast täglich bombardiert
       wurde. Diese Eindrücke sind nie verblasst. Españoles, peligro de
       bombardeos! Bombenalarm! Und die Sirenen: Uoouoouoo! Und dann fallen die
       Bomben.
       
       Das klingt nach traumatischen Erfahrungen. Aber Sie sagen, es war trotzdem
       eine gute Zeit? 
       
       Die Selbstverwaltung hat sehr gut funktioniert. Es gab während dieser
       chaotischen Zeit keine Geschäftsplünderungen, keine Überfälle, keine
       Bettler – alle waren gleich. Das ist aus heutiger Sicht unvorstellbar, ein
       außergewöhnlicher Moment in der Geschichte der Menschheit. Aber mit der
       heutigen Ideologie des Konsums ist das nicht mehr vereinbar.
       
       Könnte sich diese anarchistische Revolution wiederholen? 
       
       Heutzutage? Nein. Weil die Leute nicht darauf vorbereitet sind.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Die Anarchie, die Abwesenheit von Herrschaft, hat heute einen schlechten
       Ruf, da in ihrem Namen viele Verbrechen begangen wurden. Das Wort
       „libertär“ ist deshalb viel besser. Anarchie ist, wie alle Ideologien, eine
       Vision der Welt, die ein bisschen optimistisch ist. Das Sympathische an
       Anarchie ist, dass sie versucht, die Selbstbestimmung des Menschen
       gleichzeitig mit dem Wohl der Gesellschaft in Harmonie zu bringen.
       
       In Ihrem Buch über den spanischen Bürgerkrieg schreiben Sie: Wenn man auf
       Utopien verzichtet, wählt man den inneren Tod. 
       
       Das habe ich geschrieben? Es sind so viele Bücher, dass ich mich nicht
       erinnern kann. Der Verzicht auf Utopie ist gleichzusetzen mit dem Verzicht
       auf den Wunsch nach Freiheit. Der Mensch hat die Neigung, sich eine ideale,
       perfekte, glückliche Welt vorzustellen. Das ist eine natürliche
       Eigenschaft.
       
       Wirklich? 
       
       Man muss träumen dürfen. Den Menschen geht das verloren, weil sie
       entfremdet sind. Es herrscht eine Ideologie des Erfolgs, eine geistige und
       seelische Dressur, die der Kapitalismus durchgesetzt hat.
       
       Sind Sie ein Optimist? 
       
       Nein, ich bin kein Optimist. Aber die Existenz des Guten ist ein
       Grundprinzip. Ich lege sehr viel Wert auf Höflichkeit. Ich hatte das Glück,
       dass meine Mutter mir das vorgelebt hat. Sie war eine Heilige, una santa.
       
       Eine Heilige? 
       
       In menschlicher Hinsicht, nicht in religiöser. Sie war das Gute in Person.
       
       Sind Sie religiös? 
       
       Nein, ich bin nicht religiös. Aber ich verurteile Menschen nicht, die an
       Gott glauben. Mein Vater ließ mich nicht taufen, aber kurz nachdem Franco
       1939 Barcelona besetzte, da war ich neun Jahre alt, wurde ich mit sechs
       anderen Kindern in der Kathedrale zwangsgetauft. Wie im Mittelalter. Dabei
       war ich bis dahin nicht einmal zur Schule gegangen, weil mein Vater
       Anhänger der Pädagogik von Jean-Jacques Rousseau war: Er glaubte, dass
       Kinder ihren natürlichen Spieltrieb entfalten und nicht zum Lernen
       gezwungen werden sollten. Bevor Franco die Macht übernahm, war ich ein sehr
       freies Kind.
       
       Ihr Vater war Mitglied der anarchosyndikalistischen Arbeitergewerkschaft
       CNT und kämpfte gegen das Franco-Regime. Wie hat das Ihre Kindheit
       beeinflusst? 
       
       Mein Vater war oft abwesend, weil er im französischen Exil war oder als
       Regierungsgegner im Gefängnis saß. Er hat verschiedene Gefängnisse in
       Spanien kennengelernt. Er wurde in Provinzgefängnisse verlegt, damit er
       nicht die Gelegenheit bekam, sich durch heimliche Kanäle mit seinen
       Genossen gegen die Regierung zu verbünden. Wir waren stolz darauf, aber
       natürlich war es auch schwierig für uns.
       
       Sie sind in der Zeit der Franco-Diktatur erwachsen geworden und haben
       schließlich in Madrid für eine Zeitung gearbeitet. Wie kamen Sie nach
       Deutschland? 
       
       Die Diktatur unter Franco war eine komische Zeit. Sehr grausam am Anfang,
       aber er hat den Leuten auch viele Freiheiten gelassen. Unter Franco durften
       die Cafés bis drei Uhr morgens geöffnet bleiben. Unter den Sozialisten war
       spätestens um ein Uhr Schluss, denn die Leute sollten arbeiten. Aber Franco
       hatte eine besondere Taktik: Die Leute sollten ihren Spaß haben. Ich war
       also um Mitternacht auf den Straßen unterwegs, an einem Platz in Madrid
       namens Puerto del Sol, dem Mittelpunkt Spaniens. So wie der Picadilly
       Circus in London.
       
       Man kann sich vorstellen, wie mein Leben in Madrid als junger Mann war:
       trinken, feiern, jede Nacht Whiskey. Ich hatte die letzte Nacht nicht
       geschlafen, ich war unrasiert, mein Hemdkragen war dreckig, na gut. Ich war
       mit einem Freund unterwegs. Wir sahen zwei Frauen, die uns auffielen, weil
       sie ungewöhnlich fein gekleidet waren in dieser Augusthitze. Eine von ihnen
       war Deutsche. Wir kamen ins Gespräch und gingen gemeinsam in die Cervecería
       Alemana, eine deutsche Bierstube.
       
       Auch in den folgenden Tagen gingen wir gemeinsam aus, bevor ihre Reise
       weiterging. Es gab keinen physischen Kontakt, nur Gespräche. Als sie ging,
       habe ich ihre Hand genommen, wie ein Kavalier, und „I love you“ gesagt. Sie
       hat äußerlich nicht reagiert, aber mir später eine Postkarte geschrieben,
       in der sie sich für die Zeit und die Gastfreundschaft bedankt hat. Wir
       haben monatelang Briefe geschrieben. Als ich zu ihr „I love you“ sagte, war
       das die Wahrheit. Es war Liebe auf den ersten Blick. Obwohl ich zu dieser
       Zeit eine Freundin hatte, eine Französin, die in Madrid studierte.
       
       Wie ging es weiter? 
       
       Nach einigen Monaten fasste ich den Entschluss, aus Liebe nach Deutschland
       zu ziehen. Ich kam dort am 30. August 1959 an. Ich hatte keine Sympathie
       für das Land, aber ich war sicher, dass sie die Frau war, auf die ich
       gewartet hatte. Wir haben eine Tochter bekommen und waren 52 Jahre
       verheiratet, bis sie schließlich gestorben ist. Sie war der einzige Grund,
       wieso ich nach Deutschland gekommen bin, kein anderer.
       
       Sie leben mittlerweile länger in Deutschland, als Sie in Spanien gelebt
       haben. Kann man für Anarchie schwärmen, während man in einem Land lebt, in
       dem der Kapitalismus so gut funktioniert? 
       
       Ich schwärme nicht für Anarchie. Anarchie ist eine Ideologie, und der
       Horizont von Ideologien ist mir zu eng.
       
       17 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Djamilia Prange de Oliveira
       
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