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       # taz.de -- Kampf um die Berliner Bürgersteige: Pure Anarchie
       
       > Eigentlich bieten die Bürgersteige viel Platz. Doch der öffentliche Raum
       > zwischen Häuserwänden und Straßen ist von vielen heiß begehrt. Ein
       > Rundgang.
       
   IMG Bild: Auch er findet noch ein Plätzchen auf dem Bürgersteig
       
       Der typische Berliner Bürgersteig ist dreigeteilt: Oberstreifen,
       Unterstreifen und dazwischen der eigentliche Gehweg. Die dicken, blanken
       Granitplatten in der Mitte – Spitzname „Schweinebauch“, da sie nach unten
       hin durchhängen, um Halt im meist sandigen Untergrund zu haben. Das sieht
       man natürlich nicht.
       
       Der typische Berliner Bürgersteig ist allerdings nicht nur dreigeteilt,
       sondern auch hart umkämpft. Alle wollen ihn nutzen: Fußgänger, Radfahrer,
       Gastwirte und Ladenbetreiber. Der typische Bürgersteig in der Stadt ist
       breit, aber nicht breit genug für alle.
       
       Einige Innenstadtbezirke haben deshalb ihr Vorgehen gegen Café- und
       Restaurantbetreiber verschärft. Die Mitarbeiter der Ordnungsämter sollen
       streng kontrollieren, ob die Wirte mit ihren Tischen und Stühlen vor der
       Tür nicht mehr Platz vom öffentlichen Straßenland – denn darum handelt es
       sich beim Bürgersteig nun einmal –, in Anspruch nehmen als erlaubt.
       
       Schnell machte das beispielsweise in Kreuzberg medial die Runde und führte
       unter anderem dazu, dass sich Wirt Michael Näckel in der B.Z. darüber
       aufregte, dass er seine Biertische um drei Zentimeter kürzen sollte. „Wer
       setzt sich denn im Sommer rein ins Lokal?“, mit diesen Worten kritisiert
       er, dass das Ordnungsamt geltendes Gesetz umgesetzt hat – was nicht immer
       der Fall ist, wie später noch gezeigt wird.
       
       ## Für Fußgänger da
       
       Als Reaktion darauf musste sich Bezirksstadtrat Peter Beckers (SPD) von
       Friedrichshain-Kreuzberg in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) die
       Frage gefallen lassen, ob das Ordnungsamt denn sonst keine Probleme habe,
       als sich über drei Zentimeter Tisch zu streiten. Beckers gelassene Antwort:
       Es gebe einen Grund, warum Berlin Gehwege gebaut hat: Sie seien vor allem
       für die Fußgänger da. „Insofern ist ein Konflikt zwischen den Nutzergruppen
       vorprogrammiert, wenn Gastronomen den Gehweg zustellen“, heißt es im
       Redemanuskript der BVV.
       
       Ähnlich sehen das einige andere Bezirke wie Charlottenburg-Wilmersdorf und
       Pankow. Auch hier hat man entschieden, dass Gastwirte nicht willkürlich so
       viele Tische und Stühle nach draußen stellen dürfen, wie sie wollen.
       Schließlich bieten sie ihren Gästen öffentliches Straßenland zur Nutzung an
       und verdienen damit gutes Geld.
       
       In Charlottenburg-Wilmersdorf gilt seit 2015 ein neues
       Sondernutzungskonzept. Bezirksstadtrat Marc Schulte möchte damit wieder
       stärker betonen, dass der Gehweg ein Schutzraum für Fußgänger ist. Wird es
       auf dem Bürgersteig zu eng, darf aus Sicherheitsgründen beispielsweise
       niemand mehr mit dem Rücken zur Gehbahn sitzen. Zudem verfolgt das Konzept
       städtebauliche Interessen. Heißt: Zu viele Cafés und Kneipen sind nicht
       schön. Allein in Charlottenburg-Wilmersdorf gibt es über 2.000
       Gaststättenbetriebe mit Außenbewirtschaftung.
       
       „Das Thema der Schankvorgärten führt regelmäßig zu Bürgerbeschwerden“, sagt
       auch der Bezirksstadtrat von Pankow, Torsten Kühne. Für seinen Bezirk gibt
       er die Zahl von 1.000 (genehmigten) Schankvorgärten an. Bei den Kontrollen
       werde oft eine Überschreitung der genehmigten Flächen festgestellt.
       „Schankvorgärten erstrecken sich zum Teil bis zum Bordstein, sodass
       Kinderwagen bzw. Rollstuhlfahrer kaum noch den Gehweg benutzen können“,
       beschwert sich der Stadtrat.
       
       ## 1,5 Meter sind nicht viel
       
       Wie viel Platz die Wirte den Fußgängern lassen müssen, hängt unter anderem
       davon ab, in welchem Bezirk sie ihr Lokal betreiben:
       Friedrichshain-Kreuzberg geht von einem Bedarf von mindestens 1,5 Metern
       aus, Charlottenburg-Wilmersdorf und Pankow verlangen beispielsweise 2 Meter
       Platz.
       
       Der sogenannte Oberstreifen direkt an den Häusern darf mit Tischen und
       Stühlen bestückt werden, wenn er breit genug ist. Der Unterstreifen ist
       dagegen für das Abstellen von Fahrrädern, das Aufstellen von Briefkästen,
       Parkscheinautomaten oder Verteilerkästen und für die Anpflanzung von
       Straßenbäumen vorgesehen. Hier dürfen Wirte Tische und Stühle nur in
       Ausnahmefällen aufstellen.
       
       1,5 Meter im Minimum sind allerdings nicht viel. Wer schon einmal versucht
       hat, einen Kinderwagen bequem über einen Weg dieser Breite zu schieben –
       eventuell noch vollbepackt mit Einkäufen –, weiß, dass das knapp ist.
       Ähnlich sieht es mit dem Rollstuhl aus oder wenn man eine andere Person am
       Arm führt und sie stützen muss. Tische und Stühle werden da schnell zur
       Stolperfalle.
       
       Ausprobiert haben das auch die Behindertenbeauftragte und der Leiter des
       Ordnungsamts in Friedrichshain-Kreuzberg. In einem Selbsttest haben sie
       versucht, mit dem Rolli Gehwege zu befahren. Ergebnis: Die Fahrt wurde zur
       Herausforderung an Stellen, an denen nicht einmal eine
       Mindestdurchgangsbreite eingehalten wurde, berichtet Peter Beckers.
       Eigentlich schön, zu hören, dass sich die Ordnungsämter um die Belange
       derjenigen kümmern, die hier die Schwächeren sind. Blöd nur, wenn sie
       selbst gar kein großes Problem mit dem Thema haben.
       
       Andi Weiland von der Initiative Wheelmap, einer interaktiven Karte, die
       anzeigt, welche Orte und Räumlichkeiten für Rollstuhlfahrer ohne Hürden gut
       erreichbar sind, sieht keine großen Probleme darin, dass die Bürgersteige
       immer enger werden – beziehungsweise hätten ihm das einstimmig diejenigen
       berichtet, die im Rollstuhl sitzen. Der Tenor laute hierbei: Menschen
       helfen Menschen.
       
       „Es dauert zwei Sekunden ,und der Gehweg ist frei, wenn jemand, der in
       einem Lokal draußen sitzt, einen Rollstuhlfahrer sieht, der wegen ihm nicht
       durchkommt“, sagt Weiland. Auch Schilder würden da ganz schnell
       beiseitegeräumt. Das sei bei den Berliner Draußensitzern
       selbstverständlich. „Menschen wollen keine direkte Barriere sein.“
       
       Paradox findet Weiland es trotzdem, dass die Ordnungsämter sich in der
       Angelegenheit so bemühen. Denn immer wieder erlebt er, dass genau diese
       Ämter Kritik an den Rampen üben, die für Rollstuhlfahrer meist für
       begrenzte Zeiträume an Stufen von Eingängen von Lokalen ausgelegt werden.
       „Wenn diese zu weit auf den Gehweg ragen, wird das ganz schnell bemängelt“,
       sagt der Aktivist für Barrierefreiheit. Fazit: Dass Wirte viel Platz von
       den Bürgersteigen beanspruchen – und vielleicht sogar auch immer mehr –,
       sei spürbar. Dennoch herrscht hierbei ein zwischenmenschliches
       Funktionieren.
       
       Das sieht Karola Vogel von der Friedrichshainer Initiative „Die Anrainer“
       anders. Sie hätte gerne mehr Platz auf dem Bürgersteig. Vor allem in den
       Partyzonen von Simon-Dach-Straße oder am Ostkreuz seien alle Gehwege von
       Tischen und Stühlen besetzt und die Bewohner der ursprünglich ganz normalen
       Wohngebiete müssten Schlangenlinien drumherum laufen oder auf die Straße
       ausweichen, weil sich viele Gastwirte nicht an die Vorschriften halten.
       „Und das kontrolliert ja auch keiner“, sagt Vogel und richtet ihre Kritik
       direkt an die unterbesetzten Ordnungsämter: „Keine Kontrollen, keine
       Sanktionen, nichts ändert sich.“ Die strengeren Vorgaben seien nur Theorie.
       Auf dem Bürgersteig herrsche dagegen Anarchie.
       
       ## Mehr Gebühren verlangen
       
       Problematisch findet Vogel zudem, dass immer mehr Cafés und Kneipen
       eröffnen und kleine Einzelhändler oder andere kleine Läden aus den Kiezen
       verdrängt werden. „In Immobilienanzeigen kann man lesen, dass die Anbieter
       damit werben, dass Lokale mit 20 Plätzen drinnen und 30 draußen teuer
       angeboten werden. Da kann kein kleiner Händler mithalten“, sagt sie und
       verweist darauf, dass hier öffentliches Straßenland zu hohen Preisen
       mitvermietet werde. Der Bezirk bekomme nur eine geringe Nutzungsgebühr
       davon ab. Diese Gebühr sollte nach Ansicht von Vogel dringend steigen.
       
       Leider sind die Sonnenstunden in Berlin begrenzt und die Plätze an der
       frischen Luft für fast jeden von uns erste Wahl statt Qual. Ein Konflikt,
       der nicht zu lösen ist? Rücksicht aufeinander zu nehmen ist wohl das
       Einzige, was man raten kann.
       
       Künftig könnten die Streitigkeiten übrigens noch mehr Dynamik bekommen.
       Denn nun gibt es eine Initiative des Bundes, Bürgersteige für Radfahrer
       freizugeben, die radelnde Kinder begleiten. Die Senatsverwaltung für
       Stadtentwicklung hat angeblich bereits angekündigt, dieses Vorhaben zu
       unterstützen. Es wird also noch enger auf den Gehsteigen.
       
       18 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jana Tashina Wörrle
       
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