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       # taz.de -- Trauertourismus in München: Hinsehen, fotografieren, wegsehen
       
       > Der Amoklauf von München wurde weltweit im TV übertragen. Nun ist das OEZ
       > zu einem Wallfahrtsort für Touristen geworden.
       
   IMG Bild: Wenige Wochen nach dem Amoklauf in München. Die Blumen sind noch frisch
       
       München taz | Ein Betonklotz beim Olympiastadion in München. Groß, grau,
       unförmig. Als er in den 1970er Jahren gebaut wurde, war er schick; heute
       ist er einfach da. „Ist alles drin“, sagt eine Besucherin, „nicht schön,
       aber praktisch“ – wie der Spitzname der Münchner für das Einkaufszentrum:
       „Öz“.
       
       An der Betontreppe zum Haupteingang, dort, wo immer etwas los ist, wo Leute
       rein- und rausgehen, wo sie rumstehen und rauchen, weil man drinnen nicht
       darf, ist ein Absperrgitter. Davor liegen Stofftiere, Fotos,
       Friedhofskerzen, Sträuße – Sonnenblumen, Rosen, Chrysanthemen, die meisten
       gelb und rot. Der Münchner Amokläufer David S. hat an dieser Stelle eines
       seiner Opfer getötet. Das Foto, das den Erschossenen lächelnd zeigt, ist
       ausgeblichen, viele Blumen sind welk, sie riechen vermodert und faulig-süß.
       
       Ein paar Meter weiter duftet es nach Gebratenem, nach Pommes. „Einen
       Dönerteller zum Mitnehmen, bitte.“ Eine einzige Kundin wartet vor der
       schmalen Holzbude mit Betonvorgarten und Plastikstühlen. Es ist der
       Dönerladen von Seray und Cengiz. Börek, Salat, Couscous. Die Auslage ist
       voll, die Tische sind leer. Die Bude ist direkt neben den Blumen, Kerzen
       und Fotos – und damit ganz nah an den Spuren des Münchner Amoklaufs.
       
       „Gleich da ist auch einer gestorben“, Seray, schwarz gekleidet, perfekt
       geschminkt, zeigt nach rechts. Drei Meter weiter liegt ein Haufen
       Trauerbekundungen auf dem Fußweg. Wieder welke Blumen auf Beton. Passanten
       mit Einkaufstüten gehen daran vorbei, einige halten kurz inne. Auch eine
       junge Frau im Kleid. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, blickt
       konzentriert, tippt kurz was ein, geht weiter. „Die hat ein Foto gemacht“,
       sagt Seray. „Klick und weg. Ich erkenn das sofort.“
       
       Seray hat einen Blick dafür entwickelt. Denn seit dem 22. Juli kommen
       Menschen hierher, um zu trauern – und zu gucken. So dringen sie in den
       Alltag von ihr, ihrem Mann Gengiz und dem kleinen Sohn.
       
       „Vor vier Wochen war es noch schlimmer“, erzählt Seray: Der weiße Zaun, der
       den Imbiss umgibt, war zugedeckt mit einer riesigen schwarzen Plane. Darauf
       Fotos, Blumen und Kerzen. Alles für die Familie von dem Jungen, der hier
       angeschossen wurde. „Sie kamen her, um zu weinen, ich habe sie getröstet.“
       Journalisten und Schaulustige mit Fotoapparaten standen da, schluchzten,
       gafften, fotografierten. Es wurde so unerträglich, dass Seray alles
       weggeräumt hat: „Das war schwierig, das hat mir für die Familie leidgetan.“
       Aber nach Tagen ohne Kunden ging es um ihre wirtschaftliche Existenz. „Wer
       will schon Döner essen, wo der Amokläufer jemanden getötet hat?“
       
       ## Spuren entfernen
       
       Deshalb mussten die Spuren vom Amoklauf wenigstens an der Stelle
       verschwinden, erzählt Cengiz im braunen T-Shirt. „Keb 'Up“ steht drauf, der
       Name vom Laden. Das K sieht aus wie eine Aubergine, das U ist aus zwei
       Möhren. Der Mann von Seray war gerade in einer anderen Dönerbude. Einer, in
       der gelacht, gescherzt und gegessen wird. Einer, in der Musik laufen darf.
       So soll es auch hier wieder werden: normal halt.
       
       Der Amoklauf wurde im Fernsehen übertragen, weltweit. Deshalb stehen vor
       McDonald’s, dem Ausgangspunkt der Schießerei, zwei Meter links neben der
       Dönerbude, schon wieder Touristen. Ein sehr übergewichtiger Mann in
       Cowboystiefeln kommt aus Texas. Er hat sich von seinen Münchner Bekannten
       extra herbringen lassen: „It is like visiting the KZ in Dachau, people died
       there and people died here.“
       
       Rechts von der Dönerbude steht jetzt ein älterer Mann. Graue Haare, grauer
       Hut, beige Hose. Er zückt sein Smartphone, aber er lässt sich Zeit, schießt
       viele Fotos aus immer neuen Perspektiven. Geht runter, ganz nah ran ans
       Foto vom Erschossenen. Warum er alles fotografiert? „Do you have a problem
       with that?“, entgegnet er, ein Tourist aus Serbien. Man könne wirklich noch
       sehen, dass hier Leute getötet wurden. Die Fotos davon will er seinen
       Freunden zu Hause zeigen. Dann nutzt er gleich noch die Chance und fragt
       nach Tipps: „Where should I go next, which sights?“
       
       Wie lange noch Touristen extra wegen des Amoklaufs zur Straße vor dem
       Einkaufszentrum kommen werden? Seray und Cengiz hoffen, dass zumindest die,
       die Selfies machen, bald wegbleiben. „Gestern kamen welche, die haben sich
       in Posen geworfen und dabei gelacht. Der eine Typ hat sich so hingestellt,
       dass auch das Foto vom Opfer mit drauf ist.“
       
       Selfie-Poser hat auch Gosia schon gesehen. Sie wohnt neben dem Öz und war
       früher Stammkundin vom Dönerladen. „Das Couscous hat es mir angetan.“ Aber
       jetzt verzichtet sie lieber darauf und versucht diese Straße gegenüber dem
       Einkaufszentrum, „wo das Schlimme passiert ist“, wie sie sagt, zu meiden.
       Geht extra einen Umweg zur U-Bahn-Station, täglich, seit Wochen. „In der
       Nacht nach dem Amoklauf, als ich wieder in meine Wohnung durfte, habe ich
       gleich meinen Koffer gepackt, ich habe meine Eltern angerufen, ich wollte
       zurück nach Polen ziehen, dabei bin ich schon seit 20 Jahren in München.“
       
       ## Alles ist anders geworden
       
       Da hat sie überreagiert, findet Gosia mittlerweile. Trotzdem, die Tat hat
       ihr Leben verändert, allein weil sie hier wohnt. „Alles ist anders
       geworden, so schwer.“ Lächelnd und gefasst wirkt die zierliche Frau, wenn
       sie darüber spricht, was ihr nicht gefällt: die Stimmung, die Touristen und
       der Trauerschmuck am Gehweg. Alles erinnert an die Schüsse, die Toten. Am
       schlimmsten sind die Blumen.
       
       „Wenn ich hier morgens zur U-Bahn gehe, dann riecht man die so stark, dass
       mir übel wird.“ Am besten wäre es, meint sie, wenn man alles wegräumte,
       auch für die Kinder hier in der Gegend sei das besser. Viele dächten wie
       sie, aber die meisten trauten sich nicht, es offen zu sagen. Auch sie will,
       wie die beiden vom Imbiss, ihren vollen Namen lieber verschweigen. „Es
       wirkt so herzlos, wenn man nicht mehr trauern will.“
       
       Als Gosia die breite Betontreppe zum OEZ hochgeht, kommt ein Junge auf dem
       Fahrrad angefahren. Sweatshirt, Sonnenbrille, schwarze Haare. Nach der
       Schule kommen oft Jugendliche wie er zum Einkaufszentrum, hängen rum. Auf
       die hatte es David S. bei seiner Tat abgesehen. Der Junge bleibt stehen,
       guckt, überlegt. Dann schiebt er sein Rad weiter – weiter weg von den
       Blumen, stellt es ab und geht zum Eingang hoch, wo vier Freunde auf ihn
       warten.
       
       Cengiz verabschiedet gerade ein paar Stammgäste, die zum ersten Mal wieder
       da waren. Per Handschlag. „Baklava für nachher“ spendiert er ihnen,
       eingewickelt in zwei braune Papiertüten. Als sie weg sind, nimmt er sich
       selbst ein Stück der in Sirup getränkten Süßigkeit und meint: „Die haben
       mal wieder die typische Geschichte erzählt: dass sie nur durch Zufall
       während des Amoklaufs nicht am Öz waren. „Wegen eines Arzttermins.“
       
       Dass sich alle so fühlen, als seien sie nur knapp dem Tod entronnen, findet
       Cengiz verrückt. Trotzdem: Auch seine Geschichte geht so. Weil er müde war,
       sei er am Tattag nicht noch einmal zu seiner Dönerbude gefahren – „wie
       sonst wirklich immer“.
       
       Und seine Frau Seray ist nur deshalb nicht während des Amoklaufs in der
       Dönerbude gewesen, weil Cengiz sie noch gebeten hatte, Eisbergsalat zu
       kaufen. „Sonst wäre sie direkt in der Schusslinie des Amokläufers
       gestanden.“ Dann verstummt er und wirkt so, als ob er immer noch nicht ganz
       glauben kann, was hier passiert ist. Auch Wochen danach nicht.
       
       Um die Dönerbude herum herrscht seit ein paar Tagen wieder mehr Betrieb.
       Auch kommen wieder mehr Leute zum OEZ. Wenn die Sonne scheint, wirken die
       brennenden Kerzen jetzt irgendwie fehl am Platz. Eine Frau mit Kind bleibt
       stehen, sie hat frische Blumen dabei und legt sie über vertrocknete gelbe
       Tulpen. Dann kommen drei junge Mädchen, H&M-Tüten in der Hand und
       Eiswaffeln. Sie kichern, albern und ahmen jemanden nach. An der Frau, den
       Kerzen und den Blumen gehen sie vorbei.
       
       30 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Judith Schacht
       
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