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       # taz.de -- Otto-Dix-Ausstellung in Colmar: Biblisches vom großen Realisten
       
       > Vor 500 Jahren wurde der Isenheimer Altar vollendet. Der war Inspiration
       > für Otto Dix, dessen 125. Geburtstag am 2. Dezember gefeiert wird.
       
   IMG Bild: Ecce Homo III (1949, Ausschnitt) – ein typisches Dix-Motiv, das Christus als Archetyp des gequälten Menschen zeigt
       
       Fast möchte man am Ende nicht nur den hl. Antonius, sondern auch Otto Dix
       einen Wundertäter nennen. Beiden begegnet man derzeit in Colmar im Musée
       Unterlinden, in der Ausstellung „Otto Dix – Isenheimer Altar“.
       
       Mit der Ausstellung feiert der Erweiterungsbau der Architekten Herzog & De
       Meuron seine Premiere, der, teils unterirdisch angesiedelt, das Museum
       völlig neu strukturiert. Dass die erste Ausstellung nach der
       Wiedereröffnung am 23. Januar nun Otto Dix gilt, ist ungewöhnlich – denn
       trotz seiner Bedeutung für die Kunst des 20. Jahrhunderts ist der Meister
       der Neuen Sachlichkeit in Frankreich nahezu unbekannt.
       
       Allerdings hat sich Dix in seinem Werk wie kaum ein anderer Künstler seiner
       Zeit mit Motiv, Maltechnik und Farbigkeit der berühmten Altargemälde
       auseinandergesetzt, die Matthias Grünewald in der Zeit von 1512 bis 1516
       für das Antoniterkloster in Isenheim schuf, und die nun das Museum
       Unterlinden beherbergt. Nicht zuletzt während seiner Kriegsgefangenschaft
       in Colmar, die von April 1945 bis Februar 1946 dauerte, beseelte der Altar
       erneut seine Malerei.
       
       Dieser Otto Dix, der sich nach dem Verlust seiner Professur an der Dresdner
       Kunstakademie 1933 an den Bodensee zurückzieht und dann im März 1945 zum
       Volkssturm eingezogen wird und in Gefangenschaft gerät, ist auch bei uns
       ein wenig bekannter Künstler – und die Ausstellung damit eine Einladung,
       auch an das deutsche Publikum, mehr über ihn zu erfahren. Etwa dass er, der
       Städter, sich von den Nazis „in die Landschaft verbannt“ sah, wo er sich
       eben diesem Motiv zunächst widerwillig, dann aber passioniert zuwandte, wie
       auch biblischen Themen.
       
       ## Jesus als Bild für den gequälten Menschen
       
       Zunächst könnte man also meinen, einem religiösen Maler zu begegnen. Der
       hl. Christopherus ist etwa in der Zeit von 1933 bis 1944 ein
       wiederkehrendes Motiv, genauso wie der Kampf Jakobs mit dem Engel oder die
       Versuchung des hl. Antonius. Nach 1945 kommt eine ganze Reihe
       eindrücklicher Christus-Darstellungen dazu. Spätestens hier wird aber
       deutlich: Dix ist kein gottesfürchtiger Künstler. Sein Christus ist weder
       historischer Jesus noch Gottessohn, sondern der hungernde, verletzte,
       gequälte, gefolterte und schließlich gemordete Mensch, der alleingelassen,
       beschädigt, die Unmenschlichkeit seiner Umwelt, insbesondere der
       staatlichen wie der religiösen Institutionen, bezeugt.
       
       Es ist der Mensch, dem wir zurzeit in einer Massenhaftigkeit begegnen, wie
       vielleicht seit den Tagen nicht mehr, in denen Dix ihn malte. Und so
       erscheinen uns seine (nicht mehr wie zuvor zwanzig Jahre lang in
       altmeisterlicher Mischtechnik, sondern in schneller Alla-prima-Malerei
       ausgeführten) Kreuzigungen und selbst Auferstehungen auch gar nicht mehr
       verschroben fromm, sondern, im Gegenteil, sehr gegenwärtig und bekannt.
       
       ## Zu unfromm für die Kirche
       
       Die Kirchen schätzten die Dix’sche Bibelauslegung nicht, Aufträge von ihrer
       Seite fehlten. Sein letztes Triptychon, „Madonna vor Stacheldraht“, das Dix
       1945 für die katholische Kapelle des Lagers in Colmar anfertigte (just zum
       Zeitpunkt, als der in Sicherheit gebrachte Isenheimer Altar ins Museum
       Unterlinden zurückkehrte), ist zwar heute in der Kirche Maria Frieden in
       Berlin-Mariendorf zu Hause, doch es war der Berliner Senat, der das Werk
       1988 bei Lempertz in Köln ersteigerte und es der katholischen Gemeinde
       übergab. Neben Maria, die statt im Rosenhag vor einer verwüstete, von
       Stacheldraht umgrenzten Landschaft sitzt, sah man besonders im Motiv des
       linken Seitenflügels einen Berlinbezug: der gefangene Paulus in seiner
       Zelle, deren Mauern einstürzen. Und da erwies sich nun ausgerechnet das
       Dix’sche Werk als wundertätiges Bild. Denn kaum war es in Marienfelde
       installiert, fiel 1989 die Mauer.
       
       Wenn nicht wundertätig, so sollten die Darstellungen des Isenheimer Altars
       doch heilsam wirken. Eine der zentralen Figuren ist der hl. Antonius,
       Patron der Antoniter, einem Bettelorden, der seine Aufgabe vornehmlich in
       der Krankenpflege sah, wobei die Mönche sich besonders jener annahmen, die
       an der damals auch Antoniusfeuer genannten, weit verbreiteten
       Mutterkornvergiftung litten. Die Kranken wurden vor den Altar geführt, um
       dessen Szenen zu studieren, die auch diese Krankheit zeigte – was wie
       Medizin wirken und zur Gesundung beitragen sollte.
       
       Die widersprüchliche Mischung aus harschem Realismus und Phantastik der
       neun Grünewald’schen Altartafeln faszinierte zum Jahrhundertbeginn
       besonders die deutschen Künstler, die aus dem Schatten der französischen
       Avantgarde herauszutreten suchten. Bei Grünewald entdeckten sie die
       Bedeutung der Linie, die Verzerrung der Extremitäten und des Körpers und
       den emotionalen Reiz der Farbe. Im Ersten Weltkrieg war der Altar 1917 nach
       München überführt, restauriert und als „höchster geistiger und
       künstlerischer Besitz des deutschen Volkes“ in der alten Pinakothek
       fetischisiert, also ausgestellt worden.
       
       ## Unerhörte Kühnheit
       
       Ob Dix den Altar dort gesehen hat, ist nicht bekannt. Er selbst schreibt
       1945 an seine Frau: „Den Isenheimer Altar sah ich 2 x, ein gewaltiges Werk
       von unerhörter Kühnheit …“. Seinen Einfluss auf Dix registriert die
       Kunstkritik erstmals 1923 beim „Schützengraben“; mehrfach bezieht sie sich
       auf Grünewald, um die Farbigkeit und die schonungslose Darstellung der
       Kriegsgräuel des Gemäldes zu benennen. Damit wurde es zum Skandal im
       Kriegsverliererland; das Bild verschwand, um 1937 eines der prominentesten
       Werke der Wanderausstellung „Entartete Kunst“ zu werden. Seither ist es
       verschollen.
       
       In Colmar lassen sich Dix’ Referenzen auf Grünewald anhand von sieben
       Blättern aus dem 50-teiligen, 1924 fertiggestellten Radierzyklus „Der
       Krieg“ nachvollziehen. Der aufgespießte Soldatenkörper, der ein Baummotiv
       aus dem „Besuch des hl. Antonius beim Emeriten Paulus“ mit Motiven der
       Tafel „Die Versuchung des hl. Antonius“ aufnimmt, findet sich hier wie im
       „Schützengraben“ und in dem nun in Mischtechnik auf Holz gemalten
       Triptychon „Der Krieg“ (1929–32), dem Dix eine Predella hinzufügte, was die
       Nähe zum Isenheimer noch betont und eine um Verständlichkeit und Akzeptanz
       der abschreckenden Darstellungen werbende Sakralisierung sucht. Aufgrund
       seines fragilen Zustands mochte die Galerie Neue Meister in Dresden das
       Werk nicht ausleihen.
       
       Trotzdem wartet das Musée Unterlinden mit der beachtlichen Zahl von 110
       Exponaten auf, darunter Leihgaben aus dem MoMA in New York oder dem Pariser
       Centre Pompidou („Bildnis der Journalistin Sylvia von Harden“, 1926) und 25
       noch nie öffentlich präsentierte Arbeiten. Hier wird deutlich, wie früh,
       schon in den expressionistischen Anfängen, sich Dix mit Grünewalds
       Meisterwerk auseinandersetzte. Dass er damit im Einklang mit dem
       künstlerischen Zeitgeist agierte, belegen zehn ergänzend ausgestellte
       Arbeiten seiner Zeitgenossen Max Beckmann, Max Ernst oder Gert Wollheim,
       deren Grünewald-Adaptionen ebenfalls nicht zu übersehen sind. Anders als
       sie blieb Otto Dix aber dieser Verbindung sein ganzes künstlerisches Leben
       lang hartnäckig auf der Spur.
       
       28 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
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