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       # taz.de -- Die Wahrheit: Luftige Post aus Kabul
       
       > Die Wahrheit wird 25! Greatest Hits (2): Eine kleine Geschichte der
       > Wahrheit-Seite. Die Mullah-Affäre, Osama bin Laden und der
       > Leserbrief-Weltrekord.
       
   IMG Bild: Die Wahrheit lebt. Osama bin Laden hingegen schläft längst bei den Fischen
       
       Die Wahrheit feiert am 25. November 2016 ihren 25. Geburtstag. Aus diesem
       hohen Anlass lässt die Wahrheit in diesen Tagen einige ihrer besten
       Geschichten noch einmal Revue passieren. 
       
       Am Morgen des 13. Februar 2001 war nicht viel los, es war ein ruhiger
       Dienstag. Die Nachrichtenticker gaben nicht viel her, und die Kleintexte
       auf der Wahrheit-Seite der taz füllten sich nur schleppend. Kurz vor
       Redaktionsschluss aber kam eine AP-Meldung herein über ein Erdbeben in
       Indien und die Reaktion „islamischer Kleriker“ auf die Katastrophe:
       „Moslems machen Fernsehen für Erdbeben verantwortlich.“ Der absurde Inhalt
       verlangte nach dem ältesten Mittel der Satire, der Verkehrung. Ein inverses
       Lob für die fernsehkritischen Gottesmänner musste her, und so entstand der
       folgende 28-Zeiler unter dem Titel „Mullahs immer klüger“:
       
       Bislang dachten wir immer, Christen sind die klügsten Menschen der Welt,
       jetzt stellt sich heraus, es sind Muslime. Im indischen Unionsstaat Gujarat
       machen die Muslime das Fernsehen für das verheerende Erdbeben vor
       zweieinhalb Wochen verantwortlich. Sie warfen am Dienstag Hunderte
       Fernsehgeräte von Hausdächern oder zerstörten sie mit Eisenstangen. Allein
       in der Stadt Surat wurden rund 400 Geräte zerschlagen. Dort hatte ein
       islamischer Kleriker erklärt, das Fernsehen habe die Gedanken der Menschen
       vergiftet und Allah erzürnt, und dies sei die Ursache für das Beben.
       Während wir im gedankenfaulen Europa die geistigen Auswirkungen von Arte,
       dem ARD-Presseclub und dem ZDF-Nachtstudio völlig unterschätzen, weiß der
       kluge Mullah längst: Allah ist groß, Allah ist mächtig, er hat einen … von
       drei Meter sechzig. 
       
       Die drei Pünktchen gab es selbstverständlich im Originaltext nicht, aber
       sie sind hier bewusst gesetzt, denn sie wurden zum schwarzen Stein des
       Anstoßes und sollen aus Sicherheitsgründen nicht wiederholt werden. Jedem
       halbwegs denkenden Leser wird sowieso klar sein, was gemeint ist. Aber die
       Reaktionen nach dem Erscheinen des winzigen Textleins am 14. Februar 2001
       waren gewaltig.
       
       ## Religiös Schwerverletzte
       
       Groß war die Aufregung vor allem unter Muslimen, die die Wahrheit der
       Gotteslästerung beschuldigten, bei der Staatsanwaltschaft anzeigten und
       eifrig mit Post bombardierten. Tausende von Briefen, Faxen, Mails und sogar
       Unterschriftenlisten erreichten die Redaktion aus aller Welt. Noch immer
       hält der Wahrheit-Redakteur mit 13.000 Leserbriefen den taz-internen
       Weltrekord. Es hagelte Beschwerden: „Sie haben kein Recht, durch
       Beleidigungen und herabwürdigende Äußerungen Millionen von Muslimen in
       Deutschland in ihren religiösen Anschauungen zu verletzen“, schrieb ein
       Schwerverletzter. Viele Beleidigte verlangten eine Entschuldigung: „Ich
       erwarte, dass die taz sich für diese bedauerliche Passage auf niedrigstem
       Niveau entschuldigt.“ Auf niedrigstem Niveau entschuldigen? „Kein Problem:
       Tschuldigung“, schrieb der Wahrheit-Redakteur in einer ersten
       Stellungnahme.
       
       Viele Briefe waren von anonymen Absendern: „Ihr verfickten Arschlöcher.
       Habt ihr denn nichts anderes zu tun, als euch gegenseitig in den Arsch zu
       ficken?“, fragte nonchalant ein gewisser „Nobody“. Und ein anderer
       namenloser Schreiber freute sich: „Ihr seid das dreckigste Geschöpf auf der
       Erde.“ Die Briefe waren auch eine Reaktion auf die reißerische
       Berichterstattung der türkischen Boulevardzeitung Hürriyet, die am 28.
       Februar 2001 auf der Seite eins ihrer Europa-Ausgabe schlagzeilte:
       „İnanılmaz hakaret“ (Unglaubliche Beleidigung). Daraufhin zog das Berliner
       Boulevardblatt B.Z. am 2. März 2001 nach und titelte neben dem Foto des
       Wahrheit-Redakteurs: „240.000 Berliner Moslems empört“.
       
       ## Post vom Scheich?
       
       Am 16. Februar 2001 um 15.54 Uhr war dann schließlich nichts mehr so, wie
       es einmal war. Es kam Post aus Kabul. Unter der Adresse
       „Osama@binladen.com“ schrieb der Verfasser nur einen Satz: „taz wird in die
       Luft springen. Versprochen.“ Leider ließ sich die Adresse trotz intensiver
       Bemühungen der taz-Technik nicht mehr auf ihren Ursprung zurückführen. Aber
       wozu auch? Wo bin Laden draufsteht, steckt auch bin Laden drin. Was aber
       sollte man tun? Zurückschreiben und sich bedanken? Bin Laden bei der
       Polizei anzeigen? Das Schreiben an den arabischen Fernsehsender Al Jazeera
       verkaufen, der ja fast jede Verlautbarung des Terrorführers sofort
       ausstrahlte? Würde die Wahrheit dann nicht der Bundesregierung einen
       weiteren Grund liefern, den Krieg auf die „Achse des Bösen“ auszuweiten?
       
       Die Wahrheit entschloss sich zu einer vernünftigen Erklärung und
       veröffentlichte eine ganzseitige Stellungnahme im Blatt, in der die
       Herkunft des Verses erläutert und daraus eine Art satirische Programmatik
       entwickelt wurde:
       
       „Der zitierte Kinderreim ist nicht neu und existiert in mehreren Formen,
       wie schon in Peter Rühmkorfs 1969 erschienenem Werk ,Über das
       Volksvermögen' nachzulesen ist: ‚Allah ist groß, Allah ist mächtig, wenn er
       auf den Stuhl steigt, ist er ein Meter sechzig‘ oder ‚Allah ist mächtig,
       Allah ist groß, fünf Meter sechzig und arbeitslos‘. Diese komischen Verse
       stehen in der Tradition der ‚Pfarrerverse‘, die ihren Witz daraus beziehen,
       dass religiöse Figuren mit unerwarteten, meist sexuellen Motiven
       konfrontiert werden: ‚Der Pfarrer von Kempten / der stärkt seine Hemden /
       mit eigenem Samen / in Gottes Namen / Amen‘, oder: ‚Der Pfarrer von Loretto
       / dem seiner wiegt netto / zwei Kilo ein Pfund / sonst ist er gesund.‘
       
       Solche Scherzreime haben eine Art Blitzableiterfunktion, indem sie die
       Macht der Religion unterlaufen und ihre Zwanghaftigkeit ins Lächerliche
       kippen lassen. Wie auch der ‚Allah ist groß‘-Vers, der im Kontext des
       Erdbebentextes eines zeigen sollte: Wenn Muslime so infantile Reaktionen
       auf eine Naturkatastrophe zeigen, indem sie TV-Geräte zerstören, dann muss
       man sich mithilfe kindisch alberner Komik fragen, was denn das für ein
       seltsamer Gott ist, der sich solche Anhänger wählt. Anhänger, die dem Autor
       für diesen antireligiösen Scherz eine Fatwa an den Hals wünschen und in
       ihrer hysterischen Aufregung übersehen, dass es sich nicht, wie behauptet,
       um eine rassistische Äußerung handelt.
       
       Damit Komik entlarvend wirkt, müssen Regeln verletzt werden. Vor allem jene
       Regeln, die angeblich von einer höheren Macht aufgestellt wurden und in
       deren Auftrag Glaubensritter anderen Menschen etwas wegnehmen oder
       verbieten wollen. Es gibt das Grundrecht auf Meinungsfreiheit und
       Albernheit. Dem allein ist die Wahrheit verpflichtet. Dass allerdings wegen
       des Abdrucks dieses komischen Kinderreims sogar eine Demonstration vor der
       taz-Vertretung in Bochum geplant war, wie einer der empörten
       Briefeschreiber mitteilte, macht die Arbeit der Wahrheit fast überflüssig,
       entlarvt sich der Vorgang doch selbst als Satire. Leider produzieren aber
       nicht alle Wahrheit-Kandidaten eigenhändig solche Satiren auf sich selbst.
       Deshalb braucht es immer noch die Wahrheit und die taz, die als einzige
       Tageszeitung die satirische Form der Auseinandersetzung mit den Phänomenen
       der Wirklichkeit ermöglicht.“
       
       ## Bis die Mörder kamen
       
       So weit die geradezu pastorale Erklärung, die allerdings mehr dazu diente,
       das Unbehagen bei Redaktion und Chefredaktion zu dämpfen und die Reihen zu
       schließen gegen Angriffe von außen. Und so wurden selbst die morgendlichen
       Morddrohungen am Telefon einfach ignoriert. „Hunde, die bellen, beißen
       nicht“, lautete das Motto der Wahrheit, die weniger mutige Gemüter
       aufmuntern wollte. Und lange hat die Wahrheit selbst daran geglaubt – bis
       die Mörder von Charlie Hebdo kamen. Auch deshalb stehen heute in diesem
       Text drei Pünktchen, wo es geradeheraus „Arsch“ heißen sollte.
       
       Eine Anekdote hätte einem aber schon damals zu denken geben können: Eine
       befreundete Lehrerin erzählte dem Wahrheit-Redakteur, dass sie im
       Unterricht das Thema „Zeitungen“ durchgenommen habe. Was die Schüler an
       Printmedien kennen und welche Erfahrungen sie mit ihnen hätten, wollte die
       Pädagogin wissen. Darauf fragte einer der Schüler zurück, was denn die
       Lehrerin lese, und als die antwortete, die taz, zog er den B.Z.-Artikel mit
       dem Foto des Wahrheit-Redakteurs hervor. Das Bild war mit einem dicken
       roten Filzstift durchgekreuzt worden.
       
       21 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Ringel
       
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