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       # taz.de -- Bestattung ohne Angehörige in Südkorea: Die einsamen Toten
       
       > In Südkorea sterben immer mehr Menschen sozial isoliert und verarmt. Die
       > Organisation „Good Sharing“ nimmt sich ihrer toten Körper an.
       
   IMG Bild: Einsam und verlassen: Für viele alte Südkoreaner ist das die traurige Realität
       
       SEOUL taz | Der Tod ist ein Massenbetrieb im Seouler Stadtkrematorium. Hoch
       optimiert und ohne Leerlauf. Dicht gedrängt schieben sich Trauerzüge durch
       den Eingang des sterilen Funktionsbaus, schwarz gekleidete Menschen, die
       Portraitfotos der Verstorbenen vor sich hertragen, gefolgt von sperrigen
       Holzsärgen. In das Schluchzen der Angehörigen mischen sich die
       Lautsprecherdurchsagen einer Computerstimme. Die zwölf Krematoriumsöfen im
       Erdgeschoss sind voll ausgelastet, die Aufbahrungshallen im zweiten Stock
       werden stundenweise vermietet.
       
       In einem der Zimmer richtet Park Jin Ok mit geradezu blinder Präzision
       einen Traueraltar her. Die Hände in weiße Baumwollhandschuhe gehüllt legt
       der 44-Jährige ein Obstgesteck aus Datteln, Äpfeln und Birnen nieder,
       daneben weiße Plastikchrysanthemen, und gießt einen Schuss Reisschnaps in
       ein Glas. Nach einer Schweigeminute setzt er zu einer Grabrede an. Auf den
       Sitzreihen hinter ihm lauschen sein 23-jähriger Praktikant, eine Frau der
       Bezirksverwaltung und eine buddhistische Nonne in grauem Gewand. Zu viert
       erweisen sie Kang Cheol In die letzte Ehre – einem Mann, dem sie nie zuvor
       begegnet sind.
       
       Auf dem Traueraltar thront Kang Cheol Ins Konterfei, aufgenommen in den
       letzten Monaten vor seinem Tod. Seine Augen sind glasig, die Nase gerötet,
       das angedeutete Lächeln wirkt angestrengt. Als Kang Cheol In allein in
       seiner Wohnung verstarb, gab es niemanden, der seine Leiche beansprucht
       hat. Und ebenso niemanden, der ihn beerdigen wollte. Er war ein weiterer
       Toter ohne Familie, ohne Freunde und ohne Besitz. Und damit ein Fall für
       Park Jin Ok.
       
       ## Botschaft an die Lebenden
       
       „Unsere Botschaft richtet sich eigentlich an die noch Lebenden. Wir wollen
       ihnen ein Versprechen geben: Auch wenn ihr bald sterben solltet, werden wir
       uns um euch kümmern“, sagt der Aktivist beim Leichenschmaus in der
       Keller-Mensa des Krematoriums. Noch während des Essens geht er die
       Beerdigungen für die restliche Woche durch: Zwei Tote stehen am
       Mittwochvormittag an, ein weiterer am Freitag. Oft sind es alte Menschen,
       die scheinbar unbemerkt von der Welt sterben. Andere Schicksale verfolgen
       Park Jin Ok bis in seine Träume. Die Mutter etwa, die sich in die Fluten
       des Han-Flusses warf, ihr Neugeborenes auf den Rücken geschnallt. Doch am
       Ende durchlaufen alle Verstorbenen dasselbe, rigoros durchgeplante
       Beerdigungsprotokoll: ein 60-minütiger Abschied ins Jensseits.
       
       Vor acht Jahren gründete Park Jin Ok die von der Seouler Stadtverwaltung
       mitfinanzierte Organisation „Good Sharing“. Zu jener Zeit wurde erstmals
       über ein Phänomen berichtet, das koreanische Tageszeitungen „einsame Tote“
       tauften: Alte Menschen starben, ohne dass sie jemand zu vermissen schien.
       Meist in den anonymen Armensiedlungen der Hauptstadt Seoul. Manchmal
       dauerte es Wochen, bis ihre leblosen Körper aufgefunden wurden.
       
       Im konfuzianischen Korea war so etwas bislang unerhört, kindliche Pietät
       gilt schließlich als höchstes Gut. Die Zahl der „einsame Toten“ steigt
       jedoch beständig: 1.245 Fälle wurden 2015 vermeldet, doppelt so viele wie
       fünf Jahre zuvor. Und: die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher
       liegen.
       
       Wenn es der Verwaltung auch nach mehreren Monaten nicht gelingt, die
       Angehörigen eines Toten ausfindig zu machen, landet die Leiche bei Good
       Sharing. Doch Park und sein mobiles Bestattungsteam beschränken sich nicht
       mehr darauf, lediglich die toten Körper von den Leichenhallen aufzulesen.
       Alle paar Wochen fahren sie durch die Armensiedlungen von Seoul, in dessen
       Seniorenzentren sich die Dienste der NGO bereits herumgesprochen haben.
       „Schon jetzt kommen wir kaum mehr hinterher, so viele Anfragen bekommen
       wir“, sagt Park.
       
       ## 5 Quadratmeter Einsamkeit
       
       Auch Ham Hak Joon hat Good Sharing gebeten, seine Beerdigung zu übernehmen.
       Der 88-Jährige sitzt auf dem Futon in seinem fünf Quadratmeter Zimmer, das
       kaum mehr beherbergt als eine Kleiderstange, einen Reiskocher und einen
       Ventilator. An der Decke breitet sich Schimmel aus, die Luft ist stickig.
       Für Gäste hält er Pulverkaffee und Pappbecher bereit. Die meiste Zeit
       verbringt Herr Ham jedoch allein. Seine Kinder hat er seit über 15 Jahren
       nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich, sagt er, würden sie ihn auf der Straße
       nicht mehr wiedererkennen. Dass er nun seine Beerdigung in sicheren Händen
       weiß, spende ihm Trost.
       
       Koreanische Beerdigungen waren einst aufwendige Zeremonien. Drei Tage
       dauerten sie, die Toten lagen in den Häusern der Familien aufgebahrt,
       während Verwandte und Nachbar zu Besuch kamen, um den Verstorbenen die
       letzte Ehre zu erweisen. Ihre Körper wurden in Familiengräbern an nahe
       gelegenen Berghängen bestattet.
       
       Der veränderte Lebensstil der Koreaner hat sich jedoch längst in der
       Beerdigungskultur niedergeschlagen: Meist finden die Bestattungen in von
       Krankenhäusern angemieteten „Beerdigungscentern“ statt, wo die Leichen noch
       an Ort und Stelle verbrannt werden. Weil es dort eng ist, wird oft
       untersagt, Trauergesänge anzustimmen. Die Zeremonien werden kurz gehalten,
       damit auch viel beschäftigte Gäste von ihrem Arbeitgeber frei bekommen. Im
       Schnitt kosten Bestattungen dieser Art mehr als umgerechnet 4.000 Euro. Für
       die Armen des Landes ist das oft zu viel.
       
       Und arm sein ist in Südkorea oft gleichbedeutend mit alt sein. Rund die
       Hälfte aller Senioren lebt unter dem Existenzminimum, so viel wie in keinem
       anderen OECD-Land. Außerdem zählt das Land zu den am schnellsten alternden
       Gesellschaften der Welt. Noch in den 1970er Jahren gebaren Koreanerinnen im
       Schnitt über vier Kinder, heute sind es gerade einmal 1,2. Gleichzeitig
       sinkt die Bereitschaft der Jugend, später für ihre alternden Eltern
       finanziell aufzukommen.
       
       ## Erst der Aufschwung, dann der Kollaps
       
       Auch Ham Hak Joon muss mit gerade einmal 80 Euro im Monat zurechtkommen.
       Das Mittagessen, seine erste und einzige Mahlzeit am Tag, nimmt er in einer
       Suppenküche zu sich. Er flüchtet aus seinem Zimmer schon im Morgengrauen,
       bevor sich die schwüle Augusthitze über die Stadt legt, müht sich die
       steilen, verwinkelten Gassen seiner Nachbarschaft hinab, bis er einen
       klimatisierten U-Bahnhof erreicht. Dort verbringt er seine Tage, wartend.
       
       Dabei hatte er einst ein gutes Leben: Der gelernte Busfahrer machte sich in
       den Mitte der 1990er Jahre selbstständig. Mithilfe eines Bankkredits
       gründete er sein eigenes Unternehmen, kaufte drei Reisebusse und heuerte
       eigene Fahrer an. Herr Ham wollte auch am Wohlstand seines Landes
       teilhaben.
       
       Ganz Südkorea versprühte damals ein nie dagewesenes Selbstbewusstsein. Die
       Olympischen Spiele 1988 in Seoul hatte international viel
       Medienaufmerksamkeit auf Südkorea gelenkt. Die Bevölkerung war stolz auf
       ihre junge Demokratie. Niemand erwartete, dass der hart erarbeitete
       Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahrzehnte einmal enden würde.
       
       Dann jedoch brach die Asienkrise aus, und quasi über Nacht kollabierten die
       südkoreanischen Finanzmärkte im Sommer 1997. Bald konnte Ham sein Darlehen
       nicht mehr zurückzahlen. Seine Firma ging pleite, wenig später auch seine
       Ehe in die Brüche. Aus Scham, seine Familie finanziell nicht mehr
       unterstützen zu können, isolierte Ham sich immer mehr. Schließlich zog er
       hochverschuldet in eine Armensiedlung an einem Berghang im Stadtzentrum.
       Die meisten Nachbarn dort sind ebenfalls in ihrem neunten Lebensjahrzehnt.
       Bald wird die Siedlung abgerissen.
       
       ## Das Scheitern der Männer
       
       „Fast immer sind es Männer, die sich komplett aus ihrem Umfeld
       zurückziehen“, sagt Aktivist Park Jin Ok. Die „einsamen Toten“ seien nicht
       zuletzt auch eine Krise männlicher Rollenbilder. Gerade ältere Koreaner
       würden sich ausschließlich über ihre wirtschaftliche Stärke definieren; als
       Überväter, die ihre Familie im Alleingang finanziell versorgen. Wenn sie
       beruflich scheitern, dann reiße es ihnen die Füße vom Boden weg. „Diese
       Scham halten nicht alle aus“, sagt Park.
       
       Ham Hak Joon hat sie bis heute nicht verarbeitet. Seine letzte Verbindung
       zu seinem vorigen Leben steckt tief in einem Pappkarton verstaut. Er muss
       lange kramen, ehe er seinen alten Busführerschein gefunden hat. Ein kleines
       Kärtchen, das er stolz vor die Brust hält. Ungläubig mustert er das
       Profilfoto. Es zeigt einen Mann mit dichtem, schwarzem Haar und
       zuversichtlichem Blick.
       
       „Schauen Sie“, sagt Herr Ham plötzlich, die Stimme freudig erregt: „Die
       Lizenz ist sogar noch gültig!“ Erst in diesem Winter läuft sie ab.
       
       24 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Kretschmer
       
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