URI: 
       # taz.de -- Verkauf von Twitter: Rettung oder Tod einer Plattform
       
       > Eine Bewegung möchte aus dem kleinen, blauen Vogel eine Genossenschaft
       > machen. Es geht ihr um Datenschutz und um mehr Demokratie im Internet.
       
   IMG Bild: Im Auge des Sturms: Was wird aus Twitter?
       
       „Wir mögen Dich, weil Du unser Leben bereicherst – unsere Nachrichten,
       unsere Kultur, unsere Beziehungen.“ Wie eine Liebeserklärung liest sich
       [1][die Petition der Bewegung #WeAreTwitter]. Über 1.300 Menschen haben sie
       unterschrieben. Dahinter stecken die UserInnen der Plattform, die den
       Kurznachrichtendienst Twitter kaufen wollen. Sie wollen eine Kooperative
       gründen, wünschen sich gemeinschaftlich geteilte Inhaberschaften und etwa
       einen kritischeren Umgang mit Hasskommentaren.
       
       Ausgelöst wurde die Bewegung Ende September durch den Journalisten Nathan
       Schneider, der in der britischen Zeitung [2][Guardian vorschlug: Lasst uns
       Twitter kaufen]. Über 170 Menschen mit idealistischen Motiven,
       Finanz-Knowhow und Lust auf ein Experiment schlossen sich zusammen und
       diskutieren seitdem im Internet über Ländergrenzen hinweg, wie das zu
       bewerkstelligen wäre.
       
       In organisierten Gruppen kommen Stimmen aus den USA, Kanada, Großbritannien
       und Deutschland zu Wort. Die gemeinsame Motivation: Bei der Übernahme durch
       einen großen Konzern fürchten sie nicht nur um ihre Daten, sondern um den
       Charakter des Dienstes. In einer Welt, in der einige wenige immer mehr
       Firmenanteile besitzen und die Regeln diktieren, wird der Wunsch nach einem
       Dienst in Selbstverwaltung immer größer. Dezentral organisierte
       Plattformen, die eine Alternative zum kapitalistischen Modell bieten.
       Twitter in Nutzerhand ist für die Bewegung die bessere Alternative.
       
       Was für einige bloß nach utopischen Gedankenspielen klingt, ist für Nathan
       Schneider die einzig logische Schlussfolgerung. „Die Nutzer einer Plattform
       sollen auch entscheiden, wie es mit ihr weitergeht.“ Dass die Aktion
       erfolgreich sein kann, belegt er mit verschiedenen Präzedenzfällen: Die
       US-amerikanische Football-Mannschaft Green Bay Packers gehört deren Fans
       und auch die Presse- und Nachrichtenagentur Associated Press (AP) mit Sitz
       in New York wird seit über 100 Jahren genossenschaftlich geführt. Doch
       bisher wurde noch kein Internetkonzern in der Größenordnung des
       Kurznachrichtendienstes Twitter genossenschaftlich gekauft und verwaltet.
       
       ## Umsatz generieren
       
       Für eine gemeinsame Twitter-Übernahme werden verschiedene
       Finanzierungsmodelle auf den Diskussionsplattformen vorgeschlagen:
       UserInnen könnten eine Genossenschaft gründen und Anteile der
       Onlineplattform kaufen, dabei sollen auch die jetzigen Anteilseigner mit
       ins Boot geholt werden. Auch die Idee, geringe Gebühren für NutzerInnen
       einzuführen, steht zur Diskussion. Dabei geht es nicht darum, aus Twitter
       eine Non-Profit-Organisation zu machen, sagt der deutsche Geschäftsführer
       einer Consulting-Firma, Thomas Euler, einer der sechs Initiatoren der
       Bewegung. Er wünscht sich, dass der Entwickler-Community Möglichkeiten
       gegeben werden, Umsatz zu generieren: „Denn auch wenn sie eine Kooperative
       wird, braucht Twitter Einnahmequellen.“
       
       Johnny Haeusler, Blogger und Gründer der Konferenz re:publica, ist ein
       weiterer Initiator aus Deutschland. Er könne sich, so formuliert er es im
       Interview mit dem Deutschlandradio, als Geschäftsmodell „eine ähnliche
       Genossenschaft wie bei der taz, nur auf internationaler Ebene, vorstellen“.
       
       Doch für ihn steht nicht die Finanzierung, sondern das utopische Potenzial
       der Idee im Vordergrund. Er will wissen, wie das Ganze organisiert werden
       kann: Wie sehen Entscheidungsprozesse aus? Wie eine Managementführung? Fest
       steht, nicht jedeR NutzerIn soll sich daran beteiligen müssen, doch alle
       sollen Ideen vorzubringen und Entscheidungen treffen können. Als
       wichtigsten Aufgabe sieht die Community zurzeit: Aufmerksamkeit und
       Überzeugungsarbeit.
       
       Aber nicht alle UserInnen sind von dem Plan begeistert. Einer von ihnen ist
       der Journalist Michael Seemann, der über die Zusammenhänge von Internet und
       Gesellschaft, Datenschutz und Geschäftsmodellen spricht und schreibt. Er
       hält #WeAreTwitter für den Tod der Plattform. Denn selbst wenn der Kauf
       erfolgreich abgewickelt werden könnte, sieht er darin nicht die Lösung des
       Problems, sondern nur weitere Komplikationen. „Nutzer sind grundsätzlich
       strukturkonsersativ und wollen keine Veränderung. Ich glaube, eine
       Genossenschaft würde dem nicht standhalten.“ Basisdemokratische
       Entscheidungsfindungen von vielen seien eine große Herausforderung. Ein
       Management aus wenigen NutzerInnen würde wiederum die Legitimationsfrage
       stellen.
       
       „Es ist wichtig neue Strukturen zu schaffen, aber die Lösung muss ja nicht
       gleich eine neue Gesellschaft sein“, sagt Seemann. Er wünscht sich einen
       Konzern an der Spitze, dessen oberste Priorität nicht Profitinteresse ist,
       sondern der Erhalt der Plattform und Visionen. Doch die Suche nach einem
       Konzern mit geringem Profitinteresse könnte ähnlich utopisch sein wie ein
       genossenschaftlich geführtes Twitter. „Vielleicht ist es Zeit, dass Twitter
       gehen muss“, so Seemann.
       
       Ob 1.300 PetitionsunterzeichnerInnen genügen, um eine Onlineplattform mit
       313 Millionen NutzerInnen zu retten, ist nur ein Problem, das an dem
       utopischen Traum eines Crowd-owned Twitter kratzt. Schon allein, weil
       fraglich ist, ob sie die gewünschte Kaufsumme in Milliardenhöhe aufbringen
       und das Organisationschaos bewältigen können. Doch für die
       UnterstützerInnen von #WeAreTwitter ist Twitter unabhängig von Erfolg oder
       Misserfolg der Aktion nur ein Anfang. Dahinter steckt eine größere
       Bewegung, die demokratisch geführten Besitz innerhalb der Onlinewirtschaft
       fördern möchte. Was Twitter selbst über den Vorschlag denkt? Auf Anfrage
       der taz teilt die Plattform mit: kein Kommentar.
       
       25 Oct 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://actionnetwork.org/petitions/wearetwitter
   DIR [2] https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/sep/29/save-twitter-buy-platform-shared-ownership
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolina Schwarz
       
       ## TAGS
       
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