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       # taz.de -- Phantastischer „Flut-“Film in Lübeck: Der Tag, als das Wasser weg war
       
       > Wenn an der Küste phantastische Dinge geschehen: Sebastian Hilgers Film
       > „Wir sind die Flut“ läuft bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck und
       > danach im Kino
       
   IMG Bild: Ins Watt hinaus, in ein wenig zusammengenähten Anzügen: Sebastian Hilgers „Wir sind die Flut“
       
       LÜBECK taz | Nordsee ist Mordsee – diesmal in einem anderen als dem
       vielleicht geläufigen Sinne: Es drohen weder Schiffbruch noch Sturmflut,
       sondern ewige Ebbe. Nahe dem fiktiven Windholm ist eines Tages das Meer
       verschwunden – und mit ihm die Kinder des Dorfes. Weil es keine Erklärung
       dafür gibt, wird der Ort zum Sperrgebiet erklärt, durch Wachtposten
       abgeschottet. 15 Jahre später hat ein Physikstudent eine neue Theorie über
       diese Anomalie, und mit einer Kollegin macht er sich auf den Weg in diese
       verbotene Zone.
       
       Dies ist die Prämisse von „Wir sind die Flut“, dem Abschlussfilm von
       Regisseur Sebastian Hilger an der Filmakademie Baden-Würtemberg.
       Drehbuchautorin Nadine Gottmann wiederum hat an der Filmuniversität Konrad
       Wolf in Babelsberg studiert, was den Science-Fiction-Film in gewisser Weise
       zur ersten „Koproduktion“ der beiden renommierten Hochschulen macht.
       
       Insgesamt zehn Abschlussprüfungen in verschiedenen Gewerken sind in den
       Dreharbeiten aufgegangen, und weil auch sonst allerlei Kommilitonen und
       Alumni mitwirkten – ohne Bezahlung –, konnte der Film mit gerade einmal
       100.000 Euro Förderung durch das Medienboard Berlin-Brandenburg produziert
       werden. Nicht einmal aus Schleswig-Holstein floss Geld – dabei entstand der
       Film zum Teil auf der nordfriesischen Insel Pellworm.
       
       Deren Strand wirkt hier wie eine verwunschene Landschaft, abgesperrt durch
       einen kilometerlangen (digital verlängerten) Drahtzaun, in der das Meer
       immer nur in der Ferne über das riesige Watt, das seltsamerweise nicht
       austrocknet, hinweg zu sehen ist.
       
       „Verwunschen“ ist hier das richtige Wort: Wenn plötzlich alle Kinder eines
       Ortes verschwinden, erinnert das an den Rattenfänger von Hameln oder
       vielleicht die Gebrüder Grimm, und am Schluss bekommt die Geschichte noch
       einen Dreh, den die Story des Peter Pan inspiriert haben könnte.
       
       Als habe er diese letztlich romantischen Bezüge der Geschichte kaschieren
       wollen, beginnt Hilger seinen Film in einem streng wissenschaftlichen
       Umfeld. So ist sein Werk in doppeltem Sinn „Science-Fiction“: Sein
       Hauptprotagonist ist ein Forscher, der versucht, durch Messungen und
       Experimente seine Theorie zu bestätigen. Der Physikstudent Micha (Max
       Mauff) hält einen Vortrag im Vorlesungssaal, verteidigt sich gegen
       Dozenten, die seine Theorie als Hirngespinst abtun.
       
       Terminologie und Logik der Argumentationskette entsprechen dabei dem
       heutigen Forschungsstand, denn Hilger ließ sich von einem Spezialisten der
       Stiftung Minteee beraten; die wurde gegründet um die Wissenschaft in
       Spielfilmen und Fernsehserien möglichst korrekt dargestellt zu bekommen.
       
       Auch sonst ist dies kein Film, in dem eine futuristische Technologie
       eingesetzt wird, Zeitreisen möglich sind oder Aliens landen. Die Welt
       entspricht weitgehend der, in der wir heute leben – bis auf dieses eine
       phantastische Vorkommnis. Das hat auch den Vorteil, dass Hilger nicht mit
       teuren Spezialeffekten arbeiten muss. Er zeigt realistische Schauplätze, an
       denen nicht viel mehr passiert, als dass Silvesterraketen gezündet werden
       oder ein Drachen steigt. Aber diese Orte und Handlungen lädt er so mit
       Bedeutung auf, dass auch ein leeres Schwimmbad wie aus der Welt gefallen
       wirkt.
       
       Dieses Gebiet, in dem andere physikalische Gesetze gelten, erinnert an die
       „Zone“ in Andrei Tarkowskis Film „Stalker“ – den Hilger prompt als eine
       seiner wichtigsten Inspirationsquellen nennt. Die Atmosphäre des Ortes
       beeinflusst die Protagonisten mehr und mehr, und der Kopfmensch Micha
       erkennt, dass ihn sein rationales Denken hier nicht weiterbringt, sondern
       er sich auf anderen, tieferen Ebenen öffnen muss.
       
       Von dieser Verwandlung erzählt Hilger fast ausschließlich durch Stimmungen.
       Es gibt auch noch eine kleine, konfliktreiche Liebesgeschichte zwischen
       Micha und seiner Kollegin Jana (Lana Cooper), aber die wird im Vergleich
       konventionell und beiläufig abgehandelt, wirkt wie Pflichtprogramm und
       geradezu überflüssig. Viel stärker sind die Sequenzen, in denen die
       Forscher einfach nur den Ort erkunden, der ist wie eine Geisterstadt.
       
       Da aber alle Nordseeorte inzwischen touristisch erschlossen und
       entsprechend schmuck herausgeputzt sind, musste Hilger sein Windholm
       irgendwo anders suchen. In den nordrhein-westfälischen Dörfern Immerath und
       Borschemich, die wegen der Braunkohleförderung aufgegeben wurden, hat er es
       schließlich gefunden: Dies sind tatsächlich verlassene Ortschaften, die
       Endzeitstimmung ist real und so viel authentischer als die Filmtricks, die
       Hilger durchaus beherrscht. So lässt er gerne die mal düstere, mal
       hymnische Filmmusik von Leonard Petersen schwelgen – und wenn die Forscher
       mit ein wenig zusammengenäht wirkenden Schutzanzügen ins Watt wandern,
       sieht das aus wie in einem B-Movie aus den 1950er-Jahren.
       
       27 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wilfried Hippen
       
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