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       # taz.de -- Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller: „Ich bin halt furchtbar pingelig“
       
       > Nach 10 Jahren hat Katja Lange-Müller wieder einen Roman veröffentlicht.
       > Schreiben ist für sie ein Akt größter Konzentration. Ein Hausbesuch.
       
   IMG Bild: Katja Lange-Müller flog mit 16 von der Schule und arbeitete unter anderem in einer mongolischen Teppichfabrik. Heute schreibt sie Bücher und ist staatlich geprüfte Pilzsachverständige
       
       Draußen: Der Himmel ist hellblau, die Luft spätsommerweich, und am Himmel
       dröhnen die Flugzeuge. Hier, am Leopoldplatz in Berlin-Wedding, wo Junkies
       betteln und Mütter rauchend auf den Spielplatzbänken sitzen, wohnt Katja
       Lange-Müller im Dachgeschoss eines Altbaus.
       
       Drinnen: „Bitte die Schuhe anlassen“, sagt sie. Rauch steht in der Luft.
       Auf dem Tisch ein Teller mit Brownies und Nusskuchen, an den Wänden Bilder
       von Künstlerfreunden: Skelette, Affen, eine düstere Landschaft. Und eine
       gerahmte Zeichnung mit Insektenstudien.
       
       „Schlupfwespen sind das“, sagt Lange-Müller. Und erzählt die Geschichte
       dazu: Ein Ingenieur, klein und dünn, lebte unter der Knute seiner Frau, die
       dick und dominant war. Eines Nachmittags war er auf dem Weg zu einem Essen
       mit seiner Frau, auf das er keine Lust hatte, und entdeckte in einem
       Rasenstück kleine Löcher. Er legte sich auf den Bauch und sah, wie
       Schlupfwespen aus den Löchern krochen. Detailversessen begann er,
       Schlupfwespen zu zeichnen. Tag für Tag. „Gehst du wieder zu deinen
       Fliegen?“, fragte die Frau jedes Mal resigniert. Lange-Müller lacht laut
       und rau. „So hat er sich von ihr befreit.“
       
       Seine Tochter schickte Katja Lange-Müller die Studien nach seinem Tod zu.
       Seitdem hängen sie in ihrem Wohnzimmer. Daneben baumeln Insekten,
       geflochten aus Palmblättern, „Viecher“, sagt Katja Lange-Müller, „ich
       besprühe sie ab und zu mit Wasser“. Sie stammen von einem asiatischen
       Straßenhändler, der sie ihr in Rom gebastelt hat, während ihres Aufenthalts
       in der Villa Massimo. Eigentlich sollte sie da schreiben, hat sie aber
       nicht.
       
       Katja Lange-Müller: 1951 in Berlin-Lichtenberg geboren, mit 16 wegen
       „unsozialistischen Verhaltens“ der Schule verwiesen, Schriftsetzerin,
       Krankenschwester in der Frauenpsychiatrie und Arbeiterin in einer
       mongolischen Teppichfabrik, seit 1984 Westberlinerin und staatlich geprüfte
       Pilzsachverständige. Vor allem aber Schriftstellerin. „Das bleibt man
       immer. Bis Gevatter Tod kommt. Das kann von mir aus bald sein, ich hänge
       nicht so sehr am Leben. Außer wenn ich schreibe, dann schon.“
       
       Pausen: Fast zehn Jahre sind seit dem letzten Roman vergangen. Lange-Müller
       lächelt verlegen. „Ich bin halt furchtbar pingelig.“ Sie erzählt von der
       Zeit ihres Schreibstipendiums in Rom: „Ein schwieriger Jahrgang.“ Und von
       ihrer Reise in die Türkei während der Gezi-Proteste 2013. Kaum war sie da,
       war die Zeit auch schon um. „Es passierte so viel, wir waren so aufgeregt
       und erbost.“ Sie findet, beim Schreiben solle man sich konzentrieren und
       das „biologische Verfallsdatum“ der Leser respektieren. Wer soll all das
       lesen? Lieber weniger, dafür richtig gut.
       
       Inspiration: Vor ihrer Reise in die Türkei hatte sie eine Serie von
       Träumen, aus denen sie schweißnass auffuhr: Sie kam nicht dort an, wo sie
       hinmusste. Weil sie nicht wusste, wo sie umsteigen sollte. Weil ihre Tasche
       unterwegs verloren ging. Oder: Sie wollte in der Frauenpsychiatrie
       kündigen, wusste aber nicht mehr, ob sie die Kündigung abgeschickt hatte.
       In einer dieser Nächte fragte sie sich, was wohl aus ihr geworden wäre,
       wäre sie Krankenschwester geblieben.
       
       So kam Asta zu ihr, die Hauptfigur ihres neuen Romans „Drehtür“. Sie hat
       lange im Ausland gearbeitet. Als sie älter wird und anfängt, Seren falsch
       zu injizieren, und ihre Handschuhe vergisst, schenken ihr die KollegInnen
       ein Ticket in die inzwischen fremde Heimat. Ein Jahr jünger als
       Lange-Müller, steht Asta am Münchner Flughafen neben einer Drehtür und
       raucht. „Sie ist nicht mehr ganz alleine im Oberstübchen“, sagt
       Lange-Müller: die Passanten um sie herum sehen aus wie Weggefährten, sind
       Stichwortgeber für Erinnerungskaskaden. „Eine Figur, die sich um ihr Leben
       erinnert.“
       
       Das Helfen: Schon in „Böse Schafe“, Lange-Müllers vorletztem Roman, ging es
       um die Lust am Helfen: Da war Soja, die nicht von ihrem Junkie lassen
       konnte, obwohl er andere Frauen hatte und verschwieg, dass er HIV-positiv
       war. „Helfen ist im vergangenen Jahr ja wieder schick geworden“, sagt
       Lange-Müller. „Plötzlich war ‚Opfer‘ kein Schimpfwort mehr.“ Sie hat über
       Merkel und die Flüchtlinge nachgedacht, über das sportliche, blindwütige
       Helfenwollen, die letzte Domäne des unangreifbar Guten, die zwiespältiger
       wird, je länger man sich mit ihr befasst. Dann zog sie ihren Bademantel an,
       stellte Zigaretten und eine Kiste Sprudelwasser bereit und schrieb. „Ich
       hätte auch einen Essay schreiben können, aber es wurde ein Roman.“
       
       Hilfe und Freundschaft: Im Unglück entsteht Nähe – manche Menschen nutzen
       diese Dynamik, auch Freunde. „Es gibt Freunde“, sagt Katja Lange-Müller,
       „die melden sich nur, wenn es einem schlecht geht. Da blühen die richtig
       auf. Bringen Rotwein und Taschentücher.“ Glück gemeinsam zu erleben ist
       selten, sagt sie, das gibt es eher in der Liebe. „Wobei der Orgasmus
       meistens auch nicht gemeinsam ist.“ Sie lacht ihr raues Lachen, das zum
       Husten wird.
       
       Und die Liebe? „In der Liebe spielt der Beistand eine untergeordnete Rolle,
       wenn nicht gar keine. Wahrscheinlich ist Sexualität nicht humanisierbar.“
       Ihr Freund lebt zwischen Basel und Zürich. „Da kommt man leicht hin, aber
       auch leicht wieder weg.“ Vielleicht wird sie irgendwann dort hinziehen.
       „Ich bin da ganz gerne, und Deutschland ist ein Stück weit weg. Es schreibt
       sich besser über Dinge, wenn man nicht so nah dran ist.“
       
       Das Schreiben: Ist eine Mischung aus gnadenloser Ehrlichkeit und
       bretterbiegender Verlogenheit, sagt sie. Manchmal mag sie es nicht. Sie
       schweigt. Und sagt dann: Natürlich schreibt sie noch ein Buch. Aber sie
       will sich Zeit lassen. „Schriftsteller sind asozial, wenn sie am Schreiben
       sind. Das Zusammenleben ist dann schwierig. Der andere steht mit geneigtem
       Haupt in der Tür und will etwas, aber man denkt: Du kannst da jetzt nicht
       raus, es geht nicht.“
       
       Der nächste Roman: Das Thema deutet sie auf den letzten Seiten von
       „Drehtür“ an, in jedem Roman steckt ein Hinweis auf den nächsten: Es wird
       um zwei Schwestern, Verrat und einen debilen Jungen gehen.
       
       Älter werden: „Man ist mit 11 oder 12 ein wissbegieriger Mensch – nach den
       Wechseljahren kommt das wieder. Dann, wenn man keinen Liebeskummer mehr hat
       und der Kopf frei ist. Ein Vorteil, den man erst erkennt, wenn es soweit
       ist.“
       
       Zukunft: „Das nächste, was ich zu meiner Entspannung schreiben werde, ist
       ein kleiner Band über Maulwürfe“, sagt sie. In einer Glasvitrine hinter dem
       Wohnzimmertisch stehen Tierfiguren, darunter ein ausgestopfter Maulwurf.
       „Von einem Schweizer Freund, der wusste, dass ich Maulwürfe schätze.“
       
       Warum schätzt sie Maulwürfe? „Sie sind Untergründler, Einzelgänger, bissig
       – was will man mehr?“
       
       24 Oct 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Steffi Unsleber
       
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   DIR deutsche Literatur
       
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