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       # taz.de -- Kamelfest in Pushkar: Indiens Kamelzüchter schlagen Alarm
       
       > Pushkar ist Dreh- und Angelpunkt der Kamelwirtschaft in Rajasthan. Doch
       > der Markt für die Tiere schrumpft. Die Existenz der Nomaden ist bedroht.
       
   IMG Bild: Ein Händler auf dem Kamelmarkt
       
       Mit einer lässigen Handbewegung lädt Narayan uns ein, näherzukommen. Der
       junge Mann mit spitzem Kinn und rotem Turban hütet auf einem brachliegenden
       Acker zwei Dutzend Kamele. Vorsichtig nähern wir uns den zotteligen,
       dunkelbrauen Ungetümen, die uns um einen Meter überragen. Bedächtig senkt
       ein Kamel sein Haupt am langen Hals herab, die Nüstern weit geöffnet,
       darunter ein schmales Maul mit runden Lippen. Zwei große, pechschwarze
       Augen mustern den fremden Besucher. Mit ein wenig Zureden wird das Tier
       zutraulich und lässt sich das struppige Haupt kraulen.
       
       In der Wüste kommen Kamele tagelang ohne Wasser aus, sie ernähren sich nur
       von dürren, halbtrockenen Blättern dorniger Bäume. Mit ihren tellergroßen,
       tatzenartigen Füßen sind sie in der Lage, selbst in tiefem Wüstensand große
       Entfernungen zurückzulegen. Als Transport- und Arbeitstiere finden sie in
       der Landwirtschaft und auch in der Armee Verwendung. Allerdings sind sie
       auf die Pflege und Obhut der Menschen angewiesen, auf sich allein gestellt
       würden sie in der Wüste verhungern oder an Krankheiten zugrunde gehen.
       
       Die ersten Kamele sind wahrscheinlich im sechzehnten Jahrhundert aus
       Afghanistan nach Indien gelangt. Im Wüstenstaat Rajasthan, im äußersten
       Westen Indiens an der Grenze zu Pakistan gelegen, gehören Kamele seither
       zum Landschaftsbild. Nomaden wie die Raika ziehen mit ihren Kamel- und
       Schafherden durch Wüsten und Gebirge, immer auf der Suche nach fetten
       Weiden. Kamelbullen ziehen zweirädrige Holzwagen, meist hochbeladen, über
       die Straßen.
       
       Die indische Armee, die hier eine Hunderte von Kilometern lange Grenze zum
       feindlichen Nachbarn bewachen muss, ist im Wüstensand auf Kamele als
       Transporttiere angewiesen. Im vergangenen Jahr erklärte die Regierung das
       Kamel zum Staatstier von Rajasthan und stellte es unter besonderen Schutz.
       
       ## Leckere, warme Kamelmilch
       
       Narayan Raika, der Kamelhirte, hockt am Rande des Feldes und wärmt sich die
       Hände über einem Feuer aus Kameldung. Überall auf dem Feld verteilt liegen
       die walnussgroßen Köttel der Wüstentiere. Ihretwegen dürfen sie hier
       rasten. Der Besitzer des Ackers zahlt Narayan gutes Geld dafür, dass seine
       Tiere den Boden düngen.
       
       Narayan setzt einen schmierigen Messingtopf aufs Feuer und erwärmt das
       darin schwabbernde Kräuteröl. Damit reibt er die Wunden einiger Tiere ein.
       Seine Patienten beschweren sich mit einem missmutigen Grunzen, bleiben
       jedoch ruhig stehen, um die Prozedur geschehen zu lassen. Narayan fragt, ob
       wir einmal Kamelmilch kosten wollten. Selbstverständlich wollen wir!
       
       Wie aus dem Nichts taucht ein kleiner Aluminiumtopf auf, mit dem sich
       Narayan einer jungen Stute nähert. Er streichelt das Tier, redet auf es
       ein, beruhigt es mit Schnalzlauten. Vorsichtig betastet er den kleinen
       Euter. Schließlich beginnt er an einer Zitze zu ziehen und die warme Milch
       spritzt in den Topf. Ein Junge bringt ein paar Blätter von einem Baum, die
       sich in Narayans Händen flugs in kleine gefaltete Becher verwandeln. Darin
       reicht er uns die noch warme Milch – ein Genuss! Schließlich sammelt
       Narayan seine Tiere und führt sie zur Weide in einen nahen Wald.
       
       „Die Raika sind Halbnomaden. Sie haben eine feste Heimatbasis in jenem
       Dorf, in dem ihre Familie lebt. Die Hirten verbringen den Großteil des
       Jahres jedoch mit kleinen und großen Wanderungen, die sie auch in die
       Nachbarstaaten führen. Nur bei festlichen Anlässen oder wichtigen
       Familienereignissen wie Geburt, Tod oder Hochzeit kehren sie vorübergehend
       ins Dorf zurück“, erklärt die Anthropologin Uttra Kothari, die unsere
       Gruppe begleitet.
       
       ## Pushkar – der größte Kamelmarkt der Welt
       
       Sie sammelt die Mythen und Geschichten der Raika, zeichnet Gewohnheiten und
       Bräuche auf. Die Kommunikation der Hirten mit ihren Tieren findet sie
       besonders interessant: „Jhajhajah heißt: Steh auf!, hahaha bedeutet: Komm
       her!, ein Zungenschnalzen fordert zum Weiterlaufen auf. Diese Laute
       signalisieren den Kamelen, was sie tun sollen und was nicht, was sie essen
       können und was nicht, wohin sie gehen und wie sie gehen sollen.“
       
       Unter den Wüsten der Welt zeichnet sich die indische Thar durch ihren
       relativ hohen Baumbestand aus. Der dornige Khejribaum übersteht dank eines
       ausgedehnten Wurzelwerks fast jede Dürre. In den Tälern des
       Aravalli-Gebirges, die von Bächen und Flüssen bewässert werden, wachsen
       sogar dichte Wälder. Diese sind die Lebensgrundlage der Kamelherden. Die
       Kamele Rajasthans ernähren sich nicht von Gräsern und Büschen, sondern
       fressen ausschließlich Blätter von Bäumen. Zumindest die Khejribäume
       überstehen einen Kamelfraß meist gut, sie treiben neue Triebe und verjüngen
       sich. Doch auch in Rajasthan sind die Wälder bedroht, die Nahrung der
       Kamele wird allmählich knapp.
       
       In dem kleinen Pilgerort Pushkar wird einmal im Jahr der größte Kamelmarkt
       der Welt abgehalten. Hier sammeln sich die Tiere, es gibt
       Schönheitswettbewerbe und Wettrennen. Feilschen, witzeln, fluchen,
       schimpfen: Es geht zu, wie auf einem mittelalterlichen Jahrmarkt.
       
       Fliegende Händler bieten bunte Stoffe feil, in provisorischen Bambushütten
       wird Tee und Gebäck serviert, Minnesänger unterhalten das Publikum und
       bitten um ein Bakschisch. Tausende von Touristen aus Indien und der ganzen
       Welt mischen sich unter das Publikum.
       
       Der Kamelmarkt in Pushkar fungiert als Dreh- und Angelpunkt der
       Kamelwirtschaft in Rajasthan: festlicher Höhepunkt des Jahres, Treffpunkt
       verstreut lebender Nomadengruppen, Handelszentrum. Doch seitdem Gruppen
       radikaler Hindus, die angeben, die Tiere vor dem Schlachter retten zu
       wollen, Handel und Transport von Kamelen und Rindern behindern, verzichten
       immer mehr Kamelzüchter auf eine Reise nach Pushkar. Der Markt schrumpft
       drastisch, die Preise für Kamele fallen unkontrolliert. Beim letzten
       Kamelfest im November 2015 wurden nur wenig mehr als 5.000 Kamele
       registriert, fünf Jahre zuvor waren es noch doppelt so viel!
       
       ## Die Deutsche unter Kamelnomaden
       
       „Die Lage der Kamelnomaden ist brenzlich“, sagt die deutsche Tierärztin
       Ilse Köhler-Rollefson, die seit vielen Jahren den Kamelmarkt besucht. „Und
       es wird auch immer schlechter, denn sie erfahren keinerlei Unterstützung
       durch die Regierung, obwohl die Kamelherden große ökonomische Bedeutung
       haben und einen wertvollen Beitrag zur Volkswirtschaft liefern.“
       
       Ilse Köhler-Rollefson wuchs in Hessen auf, lebt jedoch seit mehr als 20
       Jahren bei Kamelnomaden am Rande der indischen Wüste Thar. Sie leistet
       medizinische Dienste für Mensch und Tier, engagiert sich aber auch für
       Weiderechte und Marktzugänge für die Kamelzüchter, die sich Raika nennen.
       Im vergangenen November lud sie zu einem alternativen Kamelfest auf ihrer
       Farm am Rande der Wüste ein. Das Kamelfest sollte den Nomaden neue Impulse
       geben.
       
       Auf einem Basar wurden Kamelprodukte wie Decken und robuste Teppiche
       angeboten, im Restaurant konnte man Kamelmilch und auch Kamelkäse
       bestellen. Musiker trugen die Legenden der Wüstennomaden vor. Aus ganz
       Rajasthan kamen Kamelhirten zusammen, tauschten ihre Erfahrungen aus und
       berieten sich.
       
       ## Alternative zur industriellen Tierhaltung
       
       Wissenschaftler, Veterinäre und Journalisten steuerten ihre Expertise bei.
       In den Gesprächen am Esstisch oder unter dem Feigenbaum hörte man immer
       wieder dasselbe: Immer mehr Weidegründe und Wanderwege gehen verloren, die
       Einkünfte schwinden und der Wert der Tiere sinkt in rasantem Tempo, junge
       Leute hätten kein Interesse an dem Beruf des Kamelhirten.
       
       „Die erste Schwierigkeit liegt darin, dass ihre Rolle nicht anerkannt
       wird“, urteilt Ilse Köhler-Rollefson. „Es wird ihnen nachgesagt, dass sie
       sehr altmodisch wirtschaften, dass diese Art der Tierproduktion heutzutage
       nicht mehr vertretbar sei, obwohl sie nach meinem Dafürhalten besonders
       ökologisch ist, besonders sozialverträglich und auch besonders gut aus der
       Tierschutzperspektive. Sie stellt eine Alternative zur industriellen
       Tierhaltung dar.“
       
       Ilse Köhler-Rollefson leistet Lobbyarbeit für die Interessen der Raika.
       Einer ihrer engsten Verbündeten ist Sarwan Singh Raika, Funktionär beim
       indischen Verband der Nomadenvölker. Groß und von stattlicher Statur, auf
       dem Kopf ein bunter Turban, den Vollbart akkurat gestutzt, begrüßt Sarwan
       Singh Raika seine Gäste mit festem Blick und noch festerem Händedruck.
       
       Sarwan, 40 Jahre alt, vier Kinder, lebt mit seiner Familie in einer Hütte
       auf einem steinigen Hügel in der Nähe der Landeshauptstadt Jaipur. Er
       besitzt 70 Kamele, aber, so sagt er, deren Pflege brächte ihm keinerlei
       Einkommen. Am meisten macht ihm zu schaffen, dass die Weidegründe immer
       knapper werden: „Wir treiben die Tiere zur Weide in den Wald. Es kommt vor,
       dass wir dabei versehentlich jemandes Ackerland überqueren. Da werden wir
       dann oft attackiert und vertrieben, auch mit Steinen beworfen. Unsere
       Wanderrouten führen uns bis in die Nachbardistrikte Alwar und Bharatpur,
       auch dort müssen wir mit Missgunst und Gewalt vonseiten der Dorfbewohner
       und der Forstbeamten rechnen. Häufig werden wir zu hohen Geldstrafen
       verdonnert. Wie soll ich da die Kamele und meine Kinder ernähren?“
       
       ## Die Weidegründe werden immer knapper
       
       Bevor Indien unabhängig wurde, hatten die Raika und andere Nomaden
       verbriefte Weiderechte, auch in den Waldgebieten. Heute kämpfen sie ums
       Überleben. Die Raika wollen ihre Kultur leben, mit ihren Kamelen, nicht für
       einen Hungerlohn auf Baustellen schuften. Sarwan Singh Raika beschwört
       bereits das Ende der Raikakultur: „Wenn sich die Situation innerhalb von
       zwei Monaten nicht deutlich verbessert, sehen wir uns gezwungen, unsere
       Kamele in die Wüste zu schicken und den Beruf des Kamelzüchters
       aufzugeben.“
       
       Die Raika sind mit ihren Problemen nicht allein. In Tibet und in der
       Mongolei, im südlichen Afrika und dem Amazonasdschungel, im finnischen
       Lappland und selbst in Zentraleuropa stehen nomadische Viehzüchter unter
       wirtschaftlichem und sozialem Druck, ihre einzigartigen Lebensweisen
       aufzugeben.
       
       Ruth Häckh etwa, die mit ihrer Schafherde durch das Schwabenland zieht und
       das Kamelfest in Rajasthan besuchte, hat ähnliche Sorgen wie die Raika in
       Indien: „Das Weideland, das uns zur Verfügung steht, wird immer weniger,
       weil die Landwirtschaft sehr intensiv geworden ist. Man findet einfach
       keine Flächen mehr, wo man die Schafe weiden kann. Ich hab meine Herde
       reduziert, hab meinen Radius reduziert.“ Hinzu käme: Die meisten Schäfer
       haben ein Durchschnittsalter von 50 bis 60 Jahren. Es gibt keine jungen
       Leute mehr, die bereit sind, diese Arbeit zu leisten.
       
       6 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rainer Hörig
       
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