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       # taz.de -- NSU-Serie Teil 5: Die Rolle der Bundesanwaltschaft
       
       > War der NSU ein größeres Netzwerk? Weiterhin sieht die Bundesanwaltschaft
       > dafür keine Belege. Dabei gibt es eine Vielzahl an Hinweisen.
       
   IMG Bild: Das bisherige Bild vom NSU: Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos
       
       BERLIN taz | Es ist erst wenige Wochen her, da saß Anette Greger im
       Bundestag, in der Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses. Nein, wehrte
       die Bundesanwältin alle Nachfragen ab: Es gebe keine Hinweise auf weitere
       NSU-Täter, keine Hinweise zu Helfern vor Ort.
       
       Ungeklärte Fragen räumte Greger indes ein, auch offene DNA-Spuren. „Damit
       müssen wir leben.“ Das war der Punkt, an dem es dem Ausschussvorsitzenden
       Clemens Binninger, CDU-Mann und Expolizist, reichte. „Uns wäre es lieber,
       wenn Sie mit den offenen Spuren nicht leben würden. Sondern wenn Sie diese
       ermitteln würden.“
       
       Es ist der hartnäckigste Vorwurf an die Bundesanwaltschaft, der in diesem
       Moment wieder im Raum stand – und der schwerste: Tut sie wirklich genug, um
       die Rechtsterror-Serie aufzuklären? Oder hat sie sich bereits festgelegt –
       schon wieder?
       
       Auch für die Bundesanwaltschaft war die NSU-Mordserie ein Fiasko. „Unser
       11. September“, nannte sie der einstige Generalbundesanwalt Harald Range
       einmal. Über Jahre hinweg wurden neun migrantische Gewerbeleute erschossen,
       am Ende auch eine Polizistin, in Köln gingen zwei Bomben hoch – die Behörde
       aber sah sich nicht zuständig, vermochte keinen Terror zu erkennen.
       
       Erst als mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt das
       NSU-Bekennervideo und die Tatwaffen auftauchten, lag für die
       Bundesanwaltschaft alles auf dem Tisch. Und die Behörde machte fünf
       Schuldige aus: Beate Zschäpe und vier Helfer. Sie alle sitzen seit Mai 2013
       in München vor Gericht.
       
       ## War das wirklich alles?
       
       Aber: War das wirklich alles? Es gibt Zweifel. „Ich habe die Befürchtung,
       dass man sich wieder zu früh festgelegt hat“, sagt der Ausschussvorsitzende
       Binninger. „Vor dem NSU-Bekanntwerden waren die Ermittler überzeugt, dass
       die Täter aus dem Umfeld der Opfer kamen. Das war falsch. Heute sollen alle
       NSU-Taten nur von Böhnhardt und Mundlos verübt worden sein.“ Alle Hinweise
       aber, die dem Ausschuss vorlägen, sprächen dagegen, so Binninger. „Deshalb
       glaube ich, dass es mehr als zwei Täter waren.“
       
       Binninger ist mit seiner Kritik nicht allein. Auch im Münchner NSU-Prozess
       attackierten Anwälte der Opferfamilien die Bundesanwaltschaft früh: Diese
       habe die Aufklärung „als lästig hinten angestellt“. Akteneinsichten würden
       verweigert, Verfassungsschützer nicht geladen. Alles, was das Netzwerk des
       NSU und die Rolle des Geheimdienstes beleuchten soll, werde
       „scheuklappenartig blockiert“. Die Bundesanwälte verteidigten sich stets:
       Der NSU-Prozess dürfe nicht ausufern. Nur um die dort Angeklagten müsse es
       gehen. Die Frage ist dann aber: Wie viel tut die Bundesanwaltschaft
       außerhalb des Prozesses für die Aufklärung des Netzwerks um das NSU-Trio?
       Für die Opferfamilien ist das zentral: Kann es sein, dass da draußen noch
       weitere Helfer und Mittäter frei herumlaufen?
       
       Hinweise dafür gibt es. Rund 100 Kontaktleute des NSU-Trios benennt die
       Bundesanwaltschaft selber. Von einigen ist nur die bloße Bekanntschaft
       bekannt. Andere lieferten dem Trio Pässe, stellten Wohnungen zur Verfügung,
       mieteten Autos an. Waren sie auch bei Taten dabei? Das BKA kann es nicht
       sicher sagen: Es hat nur von 19 der 100 Personen die DNA in ihrer
       Datenbank.
       
       Dann gibt es auch diesen Befund: An keinem der NSU-Tatorte fanden sich
       DNA-Spuren von Mundlos oder Böhnhardt. Nicht bei den zehn Morden, nicht bei
       den zwei Anschlägen, nicht bei den 15 Raubüberfällen. Weil beide gut
       vorbereitet und wohl maskiert waren, vermuten Ermittler. Es gibt aber 43
       DNA-Spuren aus der letzten Wohnung des NSU und dem letzten Wohnmobil, die
       bis heute niemandem zugeordnet werden können. Stammen sie von Helfern?
       
       „Die These, dass drei Nazis durchs Land ziehen und isoliert morden, ist
       nicht mehr tragbar“, sagt auch die Grünen-Obfrau im NSU-Ausschuss, Irene
       Mihalic, auch sie war früher Polizistin. „Nach unseren Erkenntnissen gab es
       ein Umfeld, gab es Netzwerke. Auch V-Leute des Verfassungsschutzes spielen
       hier eine nicht unerhebliche Rolle.“
       
       ## Ungereimtheiten zu mehreren Tatorten
       
       Tatsächlich gibt es zu mehreren Tatorten Ungereimtheiten. Beim NSU-Mord an
       der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn sahen mehrere Zeugen bis zu
       sechs Täter, keine der Beschreibungen passte auf Mundlos oder Böhnhardt. In
       Rostock lag der Tatort, ein Döner-Imbiss, so versteckt zwischen
       Wohnblöcken, dass selbst Bundesanwältin Greger einräumte, dieser sei für
       Ortsunkundige eigentlich nicht zu finden.
       
       Bei dem Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse, in dem ein
       NSU-Sprengsatz explodierte, war von außen nicht erkennbar, dass Migranten
       ihn betrieben. „Getränkeshop Gerd Simon“, stand auf dem Ladenschild. Die
       Bombe wurde in dem Laden von einem Mann abgelegt, den der Besitzer als
       blond und langhaarig beschrieb – auch hier keine Ähnlichkeit mit Böhnhardt
       und Mundlos. Und für den NSU-Mord in Kassel fanden Ermittler eine Skizze
       der Innenräume des Tatortes, eines Internetcafés. Angefertigt von einem
       lokalen Ausspäher?
       
       „Der nationalsozialistische Untergrund ist ein Netzwerk von Kameraden“,
       hieß es im NSU-Bekennervideo. Wer aber gehörte zu diesem Netzwerk? Es
       bleibt bis heute ungeklärt.
       
       Klar ist, dass Neonazis aus dem militanten Blood & Honour-Netzwerk dem
       Jenaer Trio nach dem Untertauchen halfen. Sie besorgten Wohnungen oder
       Geld, versuchten auch an Waffen zu kommen. Gerade sie gehören zu den
       schweigsamsten Zeugen im NSU-Prozess. Weil sie enger mit dem Trio
       verstrickt waren als bekannt?
       
       ## „Wir schließen nichts aus“
       
       „Wir bemühen uns wirklich“, sagte Bundesanwältin Greger im
       Untersuchungsausschuss. „Wir schließen nichts aus, wir sind offen.“ Auch
       beim Verfassungsschutz habe man „keine Beißhemmungen“. Konkrete
       Anhaltspunkte auf weitere Mittäter oder örtliche Helfer aber gebe es eben
       nicht. Gegen neun Rechte ermittelt die Bundesanwaltschaft noch, die dem
       NSU-Trio direkt geholfen haben sollen. Daneben verweist die Behörde auf ein
       „Strukturermittlungsverfahren“: Alle Hinweise, die zum NSU noch einlaufen,
       würden dort geprüft. Was aber genau passiere, sei unklar, klagt die Grüne
       Mihalic: „Ich muss eher feststellen, dass dort wichtige Vorgänge versenkt
       werden.“
       
       Bis Juli 2015 wurden 112 Zeugen in dem Strukturermittlungsverfahren
       befragt, darunter drei V-Leute. Drei Durchsuchungen wurden durchgeführt.
       Seitdem: keine neuen Angaben.
       
       Einer der Zeugen, den die Bundesanwaltschaft befragte, war Lothar Lingen.
       [1][So jedenfalls lautet sein Deckname]. Lingen arbeitete als
       Referatsleiter beim Bundesverfassungsschutz, als am 11. November 2011 der
       NSU und seine Taten publik werden. Noch am gleichen Tag ordnete Lingen an,
       die Ordner von sieben V-Leuten zu schreddern – allesamt aus Thüringen, dem
       Ursprung des NSU.
       
       Warum? Auch das blieb lange unklar. Ihm seien Löschfristen aufgefallen,
       behauptete Lingen. Als ihn im Oktober 2014 die Bundesanwaltschaft befragte,
       räumte Lingen indes ein weiteres Motiv ein: Er habe gehofft, „dass dann die
       Frage, warum das Bundesamt für Verfassungsschutz von nichts gewusst hat,
       vielleicht gar nicht auftaucht“.
       
       Als Nebenkläger Lingen indes ein Jahr später im NSU-Prozess anhören
       wollten, wiegelte die Bundesanwaltschaft ab, trotz der erfolgten,
       öffentlich aber noch nicht bekannten Vernehmung: Dass der
       Verfassungsschützer die Akten bewusst geschreddert habe, sei „entgegen
       aller bislang vorliegenden Erkenntnisse spekulativ“.
       
       Nicht die einzige Fragwürdigkeit. Auch gegen Jan W., den einstigen
       Sachsen-Chef von Blood & Honour, ermittelt die Bundesanwaltschaft bis
       heute. Er soll versucht haben, den Untergetauchten Waffen zu beschaffen.
       Unterlagen von just diesem Jan W. aber ließen zwei Staatsanwälte der
       Bundesanwaltschaft 2014 schreddern – darunter ein vierseitiges Notizbuch
       mit Kontakten und Telefonnummern. Ein Versehen, beteuerte die
       Bundesanwaltschaft. Die Staatsanwälte hätten den NSU-Bezug von W. nicht
       gekannt. Aber gut stand die Behörde erneut nicht da.
       
       ## Zschäpes Brieffreund
       
       Dabei könnte gerade ein Blick auf Blood & Honour und dessen Ableger Combat
       18 lohnen. 2000 wurde das Netzwerk verboten, etliche Aktivisten aber sind
       bis heute aktiv. Im Sommer erst beteiligten sich einige von ihnen an einem
       Neonazi-Aufmarsch in Dortmund. Mit dabei: Robin S. Er soll einst bei einem
       Dortmunder Combat- 18-Ableger mitgemischt haben, ist vorbestraft wegen
       bewaffneten Raubes – und ein treuer Brieffreund von Beate Zschäpe in deren
       U-Haft.
       
       Oder vor drei Wochen: Im Schweizer Bergdorf Unterwasser trafen sich 5.000
       Neonazis zu einem Konzert, dem größten seit Jahren. Die Organisatoren aber
       kamen aus Thüringen: Rechtsextreme um den Saalfelder Steffen R., auch er
       bewegte sich im Blood-&-Honour-Umfeld. Die Veranstalter sammelten die
       Eintrittsgelder, 30 Euro pro Person, nach taz-Informationen auch für ein
       spezielles Idol: Ralf Wohlleben. Der ist im Münchner NSU-Prozess angeklagt,
       weil er den Rechtsterroristen die Mordwaffe beschafft haben soll.
       
       Woher kommt diese ungebrochene Unterstützung? Nicht nur Abgeordneten des
       NSU-Ausschuss sehen hier noch viel Aufklärungsbedarf: Im Juli
       konfrontierten auch die Opferanwälte im NSU-Prozess Beate Zschäpe mit den
       bisherigen Leerstellen im Terrorkomplex. Mehr als 300 Fragen stellten sie.
       Der Bundesanwaltschaft fielen zu all dem Ungeklärten ein: drei Fragen.
       
       4 Nov 2016
       
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