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       # taz.de -- Deutsche Populismusforschung: Die große Feldstudie
       
       > Populisten sind eine Gefahr für die Demokratie? Wissen wir noch gar
       > nicht, entgegnen deutsche Populismusforscher.
       
   IMG Bild: „Die Journalisten müssen noch lernen, die Rechtspopulisten zu dekonstruieren“, sagt die Politologin Paula Diehl von der HU Berlin
       
       Der Mann, der sich selbst für den Retter hält, ist ein rassistischer
       Wutbürger. Alles, was er von sich gibt, schreibt der Spiegel vergangene
       Woche, ist ein „populistischer Aufschrei gegen die Macht der verkommenen
       Institutionen.“ Ein „Populist, der dem Volk aufs Maul schaut“, empört sich
       die Welt.
       
       Gemeint ist nicht Donald Trump, der seinen Wahlkampf um den Einzug ins
       Weiße Haus mit einer schmutzigen Anti-Establishment-Rhetorik führte. Auch
       nicht der völkisch-nationale Norbert Hofer, der gern als Bundespräsident
       seine Heimat Österreich beschützen will. Und auch nicht Geert Wilders, der
       in den Niederlanden Stimmung gegen Marokkaner macht und deshalb wegen
       Beleidigung einer Bevölkerungsgruppe vor Gericht steht. Gemeint ist –
       Martin Luther, der mit seiner Kritik am Ablasshandel vor 500 Jahren die
       Kirche spaltete. Der Reformator ein Populist?
       
       Keine Frage, der Begriff hat derzeit Konjunktur. Nicht nur spricht halb
       Europa über den Aufstieg der Populisten (siehe Kasten). Es ist Mode, seinen
       Kontrahenten als populistischen Demokratiefeind zu diffamieren. Selbst die
       EU-Kommission in Brüssel bezeichnet TTIP- und Ceta-Gegner als Populisten.
       Nur die AfD nimmt die Vorwürfe als Kompliment. Sie will den Begriff wieder
       positiv besetzen.
       
       Doch was genau zeichnet einen Populisten aus? Diese Frage scheint das Land
       zu beschäftigen. Als die AfD bei den Landtagswahlen im März in drei
       Regionalparlamente einzog, zählte Google im deutschen Netz so viele
       Suchanfragen zu Populismus wie noch nie in den letzten fünf Jahren. Die am
       häufigsten gestellte Frage: Was bedeutet Populismus?
       
       ## Der Populismus konstruiert einen Narrativ der Betrogenen
       
       Die Frage beantwortet Paula Diehl am Telefon. Die Politikwissenschaftlerin
       an der Berliner Humboldt-Universität beschäftigt sich seit Jahren mit
       Populismuskonzepten. „Populismus“, sagt Diehl, „ist ein komplexer Begriff,
       weil er verschiedene Ebenen betrifft: den Kommunikationsstil, die
       Organisation der Partei oder Bewegung, die Ideologie und das politische
       Programm.“ Wer den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer als
       Populisten bezeichnet, meint in der Regel seinen Kommunikationsstil. Dem
       Wahlvolk nach dem Mund zu reden, darauf könne der Begriff nicht reduziert
       werden.
       
       Denn Populisten behaupten nicht nur, den Willen des Volkes zu kennen, sagt
       Diehl. Populisten konstruierten immer ein Narrativ, in dem das Volk von den
       Eliten – etablierte Politiker, Presse, wirtschaftliche Elite – betrogen
       wird. Diehl nennt das „Narrativ des betrogenen Volkes“: „Ein Retter, eine
       Partei oder eine Führer erweckt das Volk aus dem Schlaf und führt einen
       Aufstand gegen die Mächtigen an, um das Volk zu befreien.“
       
       Ähnlich formulieren das andere Politikwissenschaftler. Populisten, schreibt
       Jan-Werner Müller von der Universität Princeton in seinem aktuellen Buch
       „Was ist Populismus?“, dulden keinen legitimen Mitbewerber um die Macht.
       Die anderen Parteien bildeten ein legitimes Kartell, das vom Volk beseitigt
       werden müsse. Die Bürger, die sie nicht unterstützen, gehören automatisch
       nicht zum wahren Volk.
       
       ## Deutschland gegen Populisten gefeit? Ein Irrtum
       
       Volk und Antivolk, dieses Gegensatzpaar gehört zum Standardrepertoire von
       Populisten. Mittlerweile zieht der Appell an das Volk auch in Deutschland
       wieder. Und das überrascht Parteienforscher. Schließlich haben es in rund
       60 Jahren Demokratie nur zwei Protestparteien – die Grünen und die Piraten
       – je in den Bundestag geschafft. Andere wie die Hamburger Schillpartei oder
       die in Süddeutschland erfolgreichen „Republikaner“ gingen schnell wieder
       ein.
       
       „1989 hatte auch niemand den Fall der Mauer vorhergesehen“, sagt Christian
       Nestler mit Blick auf die AfD-Wahlergebnisse. Der Politikwissenschaftler
       von der Universität Rostock beschäftigt sich mit Parteien „am rechten
       Rand“. Nestlers Forschungspartei ist der weitere Ostseeraum. Er beobachtet
       die rechtsextreme „Schwedenpartei“ oder die unverhohlen
       ausländerfeindlichen „Wahre Finnen“. Dass er eine erfolgreiche
       rechtspopulistische Partei im eigenen Land haben würde, hätte er sich vor
       zehn Jahren nicht träumen lassen. Nun schreibt er über die populistische
       Strategie der AfD. „Es war ein Irrtum zu glauben, dass Deutschland als
       einziges Land der EU vor populistischen Parteien gefeit wäre.“
       
       Als Gründe macht Parteienforscher Nestler die Krisen in Europa aus.
       „Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise. Das hat bei vielen Bürgern
       Ängste ausgelöst und spült nun diejenigen an die Macht, die scheinbar
       einfache Lösungen anbieten.“ Abschottung gegen die EU, Rückbesinnung auf
       nationale Identitäten. Der zunehmende Populismus auf dem Kontinent ist für
       Nestler das Symptom für die grassierende Vertrauenskrise. Ob sich die AfD
       in Deutschland etabliert? „Das wird erst die Bundestagswahl im kommenden
       Jahr zeigen.“
       
       ## Wie verändert der AfD-Erfolg die Demokratie?
       
       Für die Populismusforschung an deutschen Hochschulen beginnt mit dem
       Aufstieg der AfD eine riesige Feldstudie im eigenen Land – nicht nur an der
       Uni Rostock. Auch am Göttinger Institut für Demokratieforschung studiert
       man seit der Landtagswahl im März die Wahlprogramme der AfD. Seit dem
       Beginn des Wintersemesters vor drei Wochen findet dort erstmals die
       Lehrveranstaltung „Rechtspopulismus und die AfD“ statt. Jeden Montag
       spricht Seminarleiter Alexander Hensel mit Bachelorstudenten darüber, was
       die AfD von früheren rechten Protestparteien unterscheidet – und wie sich
       ihr Erfolg erklären lässt.
       
       „Für mich als Forscher ist die aktuelle Entwicklung der AfD natürlich sehr
       spannend zu analysieren“, sagt Hensel. „Wir beobachten, ob sich die Partei
       trotz vieler Widerstände und Probleme bundesweit behaupten kann.“ An
       „österreichische Verhältnisse“ glaubt Hensel nicht. Aber der Erfolg der AfD
       wird die Demokratie verändern. Nur wie? Darüber streiten Forscher.
       
       Einige wie der Politologe Jan-Werner Müller argumentieren, dass Populisten
       immer antipluralistisch seien – und damit eine Gefahr für die Demokratie.
       Dem widersprechen andere. „Eine antipluralistische Komponente als Teil
       einer populistischen Pose findet sich in der Frühphase von Parteien
       oftmals“, sagt Alexander Hensel. „Entscheidend ist, wie und wohin sich
       diese dann entwickelt“. Die AfD könne sogar ein Korrektiv für die deutsche
       Politik sein. Indem sie den etablierten Parteien aufzeigt, wie unpopulär
       ihre Entscheidungen sind. In der Verschärfung der Asylpolitik könne man das
       beobachten.
       
       ## Blick nach Lateinamerika
       
       Die Frage, wie die AfD die Demokratie ändert, kann man auch in eine andere
       Richtung wenden. Wird die AfD demokratischer, wenn sie in Parlamenten und
       Kabinetten sitzt? Bisher mussten Demokratieforscher für diese Fragen ins
       Ausland blicken. Etwa nach Lateinamerika, wo populistische Regierungen eine
       lange Tradition haben.
       
       „Diese Frage stellt sich so für Deutschland zum ersten Mal“, sagt
       Politologin Diehl von der HU. „Populisten an der Macht können zur
       Demokratisierung führen durch neue Partizipationsmöglichkeiten, oder sie
       gleiten ins Autoritäre ab wie Hugo Chávez in Venezuela. Oder sie gleichen
       sich den etablierten Parteien an wie die FPÖ.“
       
       Spricht man mit Populismusforschern in Deutschland, spürt man, dass eine
       verhaltene Aufgeregtheit herrscht. Einerseits ist man so nah wie nie dran
       an erfolgreichen Populisten. Andererseits will man keine vorschnellen –
       unwissenschaftlichen – Schlüsse ziehen.
       
       ## Der Umgang mit Populisten ist eine riesige Feldstudie
       
       Neu beleuchten könnte man vor allem die gesellschaftlichen Komponenten des
       Phänomens, sagt Dirk Jörke von der TU Darmstadt. Wer sind die Wähler? Die
       frustrierten Abgehängten oder die verängstigten Wohlstandsbürger? Werden
       populistische Parteien die neuen Arbeiterparteien? Wie entsteht aus Wut
       eine soziale Bewegung? Jörke forscht am Institut für Politikwissenschaft.
       Anfang 2018 soll unter seiner Leitung ein Sondersammelband zu Populismus
       erscheinen. Jörkes Eindruck ist: Es tut sich was in der deutschen
       Populismusforschung. „Vieles ist schon erforscht. Aber jetzt kann man
       empirische Daten sammeln und auch die Perspektive anderer Disziplinen
       hinzunehmen.“ Wie etwa der Psychologie oder der Soziologie.
       
       An der Humboldt-Universität wird das bereits gemacht. Dort richtet das
       Institut für deutsche Literatur die Veranstaltungsreihe „Populismus und
       Politik“ aus. In der Auftaktvorlesung sprach der slowenische Philosoph
       Slavoj Žižek darüber, warum nur die Rechten von der gesellschaftlichen Wut
       profitieren. Thema der nächsten Veranstaltung: „What are the Emotions of
       Fundamentalism?“
       
       „Man bräuchte die Öffnung für interdisziplinäre Systeme“, fordert Paula
       Diehl. Bestimmte Fragen könnten Populismusforscher nicht ohne andere
       Fachrichtungen beantworten. Etwa die Verbindung zwischen Populismus und
       Massenmedien. „Der beste Helfer für Donald Trump war CNN“, glaubt Diehl.
       Und bezogen auf die AfD sagt sie: „Die Journalisten müssen noch lernen, die
       Rechtspopulisten zu dekonstruieren“.
       
       Auch der Umgang mit Populisten ist eine Feldstudie.
       
       12 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralf Pauli
       
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