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       # taz.de -- „Die Ästhetik des Widerstands“ von Weiss: Gregor Gog muss mit
       
       > An Peter Weiss' Hauptwerk fasziniert dessen Empathie für Vergessene der
       > linken Geschichte. Es stellt Kunst im Spiegel gesellschaftlicher Kämpfe
       > dar.
       
   IMG Bild: Ein operierender Schriftsteller: Peter Weiss (8. November 1916- 10. Mai 1982)
       
       Verwandtschaften kann man sich nicht aussuchen, Ersatzfamilien aber schon.
       Sie gründen sich auch abseits von zu Hause und Mainstream. Sind nachhaltig
       günstig für die Entstehung von eigenständigem Denken, ermöglichen
       kollektive Kunst oder einfach den schnöde geäußerten Widerspruch in
       Debatten.
       
       Diese einstmals linken Errungenschaften – gegenwärtig werden sie staatlich
       gefördert – vor 90 Jahren in der wackligen Demokratie der Weimarer Republik
       mussten sie erst erkämpft werden. Diese Auseinandersetzungen schwingen in
       Peter Weiss’ „Die Ästhetik des Widerstands“ stets mit.
       
       Was könnte Weiss mit dem Buchtitel gemeint haben: Humanismus als
       literarische Form? Widerständige Schönheit? Ein Fortleben von Utopien im
       Widerstand gegen das Reaktionäre? Vielleicht beschreibt er auch das, was
       Walter Benjamin in seinem Vortrag „Der Autor als Produzent“ (1934)
       „Literarisierung der Lebensverhältnisse“ genannt hat: Die Abbildung des
       eigenen Alltags, die eine Weiterbildung des Autors mit einschließt, sodass
       er nach Benjamin zum „operierenden Schriftsteller“ wird.
       
       Weiss’ namenloser Ich-Erzähler bezeichnet sich nämlich als „Autodidakt“,
       der, obwohl für „die Nichtigkeit bestimmt“ durch Lektüre eine „kulturelle
       Grundlage“ schafft. „Unter unsäglicher Anstrengung“, wie Weiss
       klassenkämpferisch den „Schritt aus der Versklavung ins wissenschaftliche
       Zeitalter“ beschreibt.
       
       An „Die Ästhetik des Widerstands“ fasziniert auch, wie sie Kunst und Kultur
       im Spiegel der sozialen und gesellschaftlichen Kämpfe nach 1918 darstellt
       und diese in den Niederlagen der Arbeiterbewegung und dem Scheitern der
       Linken unter der Knute des Faschismus beschreibt.
       
       ## Gegen das Vergessen
       
       Was der Literaturkritiker Heinrich Vormweg als „Wunsch-Autobiografie“ von
       Weiss bezeichnete, die fiktionale Verbindung seiner Protagonisten mit real
       existierenden Figuren der Zeitgeschichte von Bertolt Brecht über die
       KPD-Funktionärin Charlotte Bischoff bis zur Kriegsreporterin Lis Lindbaek,
       entreißt eine gewalttätige Geschichte dem Vergessen. Und wenn sie noch so
       blutrünstig verlief, in den 1.200 Seiten bewahrt ihr Weiss ein notwendiges
       Andenken.
       
       Besonders ergreifend liest sich eine Stelle, die im schwedischen Exil
       angesiedelt ist: Auf der Flucht vor den anrückenden Nazis gilt es, den
       Handapparat von Brecht zu retten: Was kommt mit? Diderot, Shakespeare,
       Rilke und andere Klassiker der Weltliteratur werden natürlich eingepackt.
       Auch die Encyclopedia Britannica müsse mit, verlangt Brecht. Dem
       Ich-Erzähler fällt dagegen das kleine Buch „Vorspiel zu einer Philosophie
       der Landstraße“ von Gregor Gog in die Hände, für ihn Paradebeispiel eines
       „Vereinzelten, Nicht-Zuzuordnenden“.
       
       Gog (1891–1945), ein Matrose und Gärtner, der an der Münchner
       Räterevolution teilnahm, ist ein eigenständig denkender Linker gewesen. Er
       förderte etwa Menschen aus dem „Vagabundenmilieu“ in seiner Zeitung Der
       Kunde. Vor den Nazis musste er fliehen. Gog und seine Angehörigen kamen im
       Exil der stalinistischen Sowjetunion auf elende Weise ums Leben. Heute
       trägt wenigstens die Bibliothek des Berliner Obdachlosen-Magazins Motz
       seinen Namen.
       
       8 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
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