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       # taz.de -- NSU-Serie Teil 3: Die Hinterbliebenen
       
       > Fünf Jahre nachdem bekannt wurde, dass der NSU existiert, leben die
       > Opferfamilien mit viel Enttäuschung. Ein Besuch in Kassel.
       
   IMG Bild: „Wir glauben an Gerechtigkeit“. Ismail und Ayse Yozgat (2. und 4. v.r.) und andere NSU-Hinterbliebene am Montag in Kassel
       
       Kassel taz | Es ist Montagmittag, als Ismail Yozgat ganz still wird. Am
       Morgen hatte er noch sein „willkommen, merhaba“ in die Runde geworfen, alle
       herzlich umarmt. Familie Şimşek, Mutter und Tochter Kiesewetter, Familie
       Taşköprü, Abdullah Özkan aus Köln. Nun sitzen sie alle im Bus, den die
       Stadt Kassel ihnen für eine Rundfahrt gebucht hat. Und Ismail Yozgat
       verstummt, lehnt seine Stirn gegen die Scheibe, seine Augen starren nach
       draußen. Es ist der Moment, in dem der Bus in die Holländische Straße
       biegt.
       
       Hier, in dieser Straße, wurde 1985 Yozgats Sohn Halit geboren. Und hier ist
       er gestorben, am 6. April 2006. Halit Yozgat war das neunte und letzte
       migrantische Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds. Erschossen in
       seinem Internetcafé. Der Bus fährt an dem Haus vorbei, ein Vierstöcker mit
       blasser Fassade. Das Internetcafé ist längst geschlossen, heute sitzt hier
       die Stadtimkerei.
       
       Wenig später steht Ismail Yozgat auf einem benachbarten kleinen Platz, mehr
       eine Straßenecke. Autos rauschen auf der vierspurigen Holländischen Straße
       vorbei, ein Blumenladen bietet seine Floristik an. Yozgat und die anderen
       sammeln sich vor einer grauen Stele: die für seinen Sohn und die anderen
       Opfer des NSU. Der kleine Platz heißt seit 2012 Halitplatz.
       
       „Wir bedanken uns, dass Sie unseren Schmerz teilen“, sagt Yozgat. Seine
       Stimme zittert, die Hände vergräbt er in den Ärmeln seines schwarzen
       Anoraks. „Wir glauben an Gerechtigkeit“, sagt er. „Wir verlieren nie die
       Hoffnung.“ Am Ende bittet Yozgat die Umstehenden um ein kurzes Gebet,
       einige Angehörige nehmen sich in den Arm.
       
       ## Regelmäßiges Gedenken
       
       Gut 25 Männer und Frauen sind am Montag nach Kassel gekommen. Sie alle
       haben ein Familienmitglied verloren, getötet durch den NSU, oder wurden
       selbst verletzt von der Bombe, die die Rechtsterroristen in der Kölner
       Keupstraße zündeten. In Rostock waren sie schon, in München, Hamburg,
       Dortmund und Nürnberg. Immer trafen sie sich an den Tatorten. Barbara John,
       die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opferangehörigen, hatte die
       Idee. „Um die Familien zusammenzubringen“, sagt sie. „Und um die Städte an
       ihre Verantwortung für die Angehörigen zu erinnern.“
       
       Über Jahre war deren Schicksal die Vereinzelung. Neunmal mordete der NSU
       zunächst, neunmal waren die Opfer Migranten. Und jedes Mal gehörten die
       Familien selbst zu den Verdächtigen. Nach angeblichen Drogengeschäften der
       Erschossenen fragten die Ermittler, nach Geliebten, nach Mafiakontakten.
       Bekannte wandten sich ab, die Familien zogen sich zurück.
       
       Bis sich am 4. November Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Eisenach
       erschossen und Beate Zschäpe eine Bekenner-DVD verschickte. Der NSU
       bekannte sich darin zu den Morden, auch zu dem an der Polizistin Michèle
       Kiesewetter im Jahr 2007. Die Taten waren rechtsextremer Terror.
       
       Nun steht auch Abdulkerim Şimşek auf dem Halitplatz, 28 Jahre, gestutzter
       Bart, schwarzes Sakko. Er ist mit seiner Frau und seiner zweijährigen
       Tochter angereist. Sein Vater war das erste Opfer des NSU: Im September
       2000 wurde Enver Şimşek in seinem Blumenstand in Nürnberg [1][mit acht
       Kugeln erschossen]. Nun, 16 Jahre später, sagt sein Sohn noch immer: „Wir
       kommen nicht zur Ruhe.“
       
       ## Enttäuschte Angehörige
       
       Şimşek berichtet von seiner Enttäuschung, so wie viele hier. Aufklärung
       wurden ihnen versprochen, nun aber würden ihren Anwälte von der
       Bundesanwaltschaft Akten vorenthalten, der Verfassungsschutz schreddere
       Unterlagen. „Das trifft uns wirklich“, sagt Şimşek. Bis heute sei unklar,
       ob es nicht noch mehr Helfer und Mittäter des NSU gab. Şimşek glaubt fest
       daran. „Das können die niemals alleine gemacht haben. Sie hatten Leute vor
       Ort, die die Opfer ausgesucht haben.“ „Es wird viel von Aufklärung geredet,
       aber es passiert nichts“, sagt in Kassel auch Osman Tașköprü, dessen Bruder
       im Juni 2001 in einem Hamburger Gemüseladen erschossen wurde.
       
       „Ich dachte, dass Deutschland ein gerechtes Land ist“, sagt Ayse Yozgat,
       Mutter von Halit Yozgat. „Aber ich erlebe, dass es zwei Gesichter gibt.“
       Der Mord an Yozgats Sohn gehört für die Familien zu einer der größten
       Vertrauensproben. Bis heute ist er einer der mysteriösesten des NSU. Am
       Nachmittag des 6. April 2006 findet Ismail Yozgat seinen Sohn in dessen
       Internetcafé, zweimal wurde ihm in den Kopf geschossen. Halit stirbt in
       seinen Armen. Im Internetcafé saßen zum Zeitpunkt der Schüsse fünf Kunden,
       keiner will was gesehen haben. Einer von ihnen: [2][Verfassungsschützer
       Andreas Temme].
       
       Warum er vor Ort war, ist bis heute ungeklärt. Vor zwei
       Untersuchungsausschüssen wurde Temme angehört, im Münchner NSU-Prozess
       wurde er sechsmal vorgeladen. Stets beteuerte er: Er sei nur privat im
       Internetcafé gewesen. Dass er sich als einziger Zeuge nach dem Mord nicht
       gemeldet habe, sei einem Flirtportal geschuldet, auf dem er chattete, was
       seine Frau nicht wissen sollte.
       
       „Temme lügt“, sagt Ismail Yozgat. „Entweder er deckt die Täter oder er war
       selbst an dem Mord beteiligt.“ Auch Ermittler glauben, dass Temme zumindest
       den Toten gesehen haben muss. Nachgewiesen aber ist nichts. Temme arbeitet
       heute im hessischen Regierungspräsidium. Es sind solche Wendungen, die
       nicht nur Familie Yozgat zweifeln lassen.
       
       ## Drängende Fragen
       
       Auf dem Halitplatz stellt Ismail Yozgat eine Forderung: Der NSU-Prozess
       müsse einen Ortstermin in Kassel machen, um Temme zu widerlegen. Er glaube
       an ein „richtiges Urteil“, sagt Yozgat. Auch wenn es bis dahin lange
       dauere.
       
       „Wie lange soll es denn noch dauern?“, murmelt Osman Tașköprü halblaut vor
       sich hin, er steht neben Yozgat. Auch der Kurierfahrer ist mit seiner Frau
       und kleiner Tochter angereist, auch er ist enttäuscht. Hinter dem NSU müsse
       es „noch größere Leute“ geben, sagt Tașköprü. „Sonst wären die drei nicht
       jahrelang unentdeckt geblieben.“
       
       Es war im Februar 2012, als Angela Merkel die Familien nach Berlin zu einem
       Gedenkakt lud. „Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland
       verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die
       Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken“, sagte Merkel damals. Tașköprü
       kann sich noch gut daran erinnern. „Ich habe das Versprechen damals
       geglaubt. Heute glaube ich es nicht mehr.“
       
       Auf dem Halitplatz legt auch die Kassler Schulstadträtin Anne Janz einen
       Kranz nieder. „Wir stehen an Ihrer Seite“, sagt die Grünen-Politikerin. Die
       Angehörigen applaudieren. Dann aber wiederholt Ismail Yozgat seine
       Forderung, die er schon vor der Kanzlerin in Berlin stellte: die
       Umbenennung der Holländischen Straße in Halitstraße. Die Stadt lehnt das
       ab: Die Bürger würden das nicht mitmachen, die Straße sei eine der
       Hauptachsen. Kamil Saygin sieht das anders. „Ich würde mir wünschen, dass
       die Umbenennung eines Tages kommt“, sagt der Vorsitzende des Kassler
       Ausländerbeirats.
       
       ## Frühe Demonstrationen
       
       Saygin begleitet die Familien über den Tag. Beim Mittagessen erinnert er,
       wie er im Mai 2006 mit Ismail Yozgat vor dem Rathaus Kassel stand. Ein
       Monat zuvor war Halit Yozgat erschossen worden, nun forderten 4.000
       Demonstranten: „Kein zehntes Opfer!“ Schon damals, sagt Saygin, habe er
       gesagt, die Täter seien Rechtsextreme gewesen. „Wir lagen leider richtig,
       aber keiner hat uns geglaubt.“ Bis heute rätselt aber auch Saygin, warum es
       ausgerechnet Halit Yozgat traf.
       
       Eine, die es wohl weiß, ist Beate Zschäpe. Im Münchner NSU-Prozess saß ihr
       im Oktober 2013 auch Ayse Yozgat gegenüber. „Ich spreche als Mutter, als
       eine Geschädigte“, sprach sie Zschäpe direkt an. „Ich bitte Sie, dass Sie
       all diese Vorfälle aufklären.“
       
       Inzwischen hat Zschäpe ihr Schweigen gebrochen. Im Dezember 2015 ließ sie
       ihren Anwalt eine Erklärung verlesen, zuletzt sprach sie kurz auch selbst:
       Sie verurteile die Morde und Anschläge. Damit zu tun aber habe sie nicht.
       Dafür seien allein ihre Begleiter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt
       verantwortlich. Ayse Yozgat hat die Aussage nur mehr verbittert. „Was hat
       Frau Zschäpe gesagt? Nichts.“
       
       ## Hoffnung auf Zschäpe
       
       In diesem Punkt sind sich alle Familien in Kassel einig. „Das war nur
       Theater“, sagt auch Abdulkerim Şimşek. „Zschäpe spielt allen etwas vor.“
       Von ihm aus aber könne diese selbst einen Freispruch bekommen. „Wenn sie
       endlich die Hintermänner benennt.“
       
       Es sei eine Größe der Familien, dass sie zwei Schicksale tragen könnten,
       sagt Barbara John, die Ombudsfrau. „Erst konnte der Staat die Morde nicht
       verhindern. Und jetzt kann er sie nicht aufklären.“
       
       Und dennoch wird auf dem Treffen in Kassel auch gescherzt, wird gestaunt,
       wie groß die Töchter von Abdulkerim Şimşek und Osam Taşköprü schon sind. Es
       ist die Rückgewinnung eines verlorenen Alltags. Abdulkerim Şimşek nahm
       2012, nach dem NSU-Bekanntwerden, die deutsche Staatsbürgerschaft an, ganz
       bewusst. „Ich bin hier geboren, ich gehöre hier dazu“, sagt er.
       
       Bei aller Enttäuschung, ein Stück Hoffnung bleibt. Es ist am Nachmittag,
       die Familien haben den Halitplatz schon verlassen, als auch Ayse Yozgat
       sagt: „Wir glauben an die Wahrheit. Irgendwann, so Gott will, wird sie zum
       Vorschein kommen.“
       
       2 Nov 2016
       
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