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       # taz.de -- Gentrifizierung in Leipzig: Eine Frage der Mischkultur
       
       > Der Westpol ist ein Ausstellungsort, der seinesgleichen sucht. Nun steht
       > das Projekt vor dem Aus. Doch die Betreiber geben nicht auf.
       
   IMG Bild: Museale Ausmaße: Heinz Schmöllers Hasenskulptur bei der Ausstellung „Shining“
       
       Leipzig taz | „Nothing compares to you“ und viele andere Zitate aus
       Popsongs über Trennungsschmerz zieren die Wände des [1][Westpol A.I.R.
       Space]. Dazwischen stehen in chronologischer Reihenfolge die Titel der 61
       Ausstellungen aus fünf Jahren Arbeit als nichtkommerzieller Kunstraum. Mehr
       als 450 Künstler wurden gezeigt. An der Stirnseite der Halle mit den acht
       Meter hohen Decken finden sich Jahreszahlen der Zukunft. Sie stehen für den
       Wunsch, dass es weitergeht.
       
       Es ist keine Ausstellung, die hier gezeigt wird, es ist ein möglicher
       Abschied. Anfang Oktober kam die fristgerechte Kündigung zum 30. November:
       für den Westpol, neun Ateliers auf derselben Etage und zwei Ateliers im
       Stockwerk darunter.
       
       Der Westpol A.I.R. Space befindet sich in der 500 Quadratmeter großen alten
       Mensa im zweiten Stock des ehemaligen VEB Industriearmaturen und
       Apparatebau Leipzig, eines markanten Industriekomplexes aus rotem Backstein
       in Leipzig-Plagwitz. Im Jahr 2007 entstand hier nach fast zehnjährigem
       Stillstand neuer Betrieb.
       
       Unter dem Namen „[2][Westwerk]“ fanden nicht nur Künstler Platz. Proberäume
       entstanden, Handwerker zogen ein. Es gibt ein Yogastudio, einen
       Kostümverleih, einen Getränkehändler, Gastronomie, Musikveranstaltungen und
       – bis jetzt – eben Kunstausstellungen im Westpol. Es ist die über Jahre
       gewachsene Mischung, die den Ort ausmacht.
       
       Die Künstlerin Marlet Heckhoff ist seit einem Jahr Mitglied im
       kuratorischen Team des Kunstraums. Sie sitzt im ebenfalls gekündigten
       Atelier von Naroma Kousidonis, die gerade Holz in den selbstgebauten Ofen
       legt. Heckhoff erklärt: Als der Westpol eingezogen sei, habe die Halle
       aufgrund ihrer Größe, der fehlenden Heizung und der notwendigen Sanierungen
       als nicht vermietbar gegolten. Deshalb wurde nur eine symbolische
       Monatsmiete von 1 Euro erhoben. Nur so und weil alle Mitwirkenden
       ehrenamtlich gearbeitet haben, war der Betrieb des Westpols bisher
       finanziell möglich. Für die Ateliers wird Miete gezahlt.
       
       Nun existiere ein Mietinteressent für die ehemalige Mensa, was die
       Kündigungen ausgelöst habe: „Eine Billardhalle“, sagt Heckhoff
       kopfschüttelnd. Es sei ein „Interessent aus der Unterhaltungsbranche“,
       heißt es seitens des Kulturamts der Stadt Leipzig. Peter Sterzing, der
       Geschäftsführer der verwaltenden Westwerk GmbH bestätigt nicht, wer der
       Interessent ist.
       
       Es würden Gespräche geführt, zu diesem Zeitpunkt gebe es aber keinen
       abgeschlossenen Mietvertrag, teilt er schriftlich mit. Er unterstützt die
       kulturelle Arbeit des Kunstraums, verweist jedoch darauf, dass bislang ein
       tragfähiges Konzept zur eigenständigen Finanzierung im Westpol fehlt. Immer
       wieder habe die Westwerk GmbH Wasser- und Stromkosten übernommen. Auch
       müssten Sanierungen aus der Vergangenheit refinanziert werden und weitere
       stünden an.
       
       „Wir wurden nie angefragt, weil Sanierungen nötig sind, oder gebeten, Miete
       zu zahlen. Diese Gespräche gab es nicht“, sagt Marlet Heckhoff in
       sachlichem Ton. Die Bereitschaft regulär Miete zu zahlen sei natürlich da,
       nur: „Wir sind von uns aus einfach nicht in der Lage, jetzt plötzlich Geld
       auf den Tisch zu legen. Wir müssen das organisieren.“
       
       ## Die eigene Identität soll nicht verloren gehen
       
       Das Westpol-Team versichert, man wolle keinen Krieg mit der Verwaltung oder
       den Besitzern. Beide Seiten sprechen von guter Zusammenarbeit. Was der
       Westpol sich wünscht, ist ein Gespräch – und Geduld seitens des Vermieters,
       um eine Finanzierung möglich zu machen.
       
       Nach der mündlichen Ansage der Kündigung im August wurde nun ein Verein
       gegründet, um besser Fördergelder und Spenden abwickeln zu können. Auch die
       Beitragszahlung zukünftiger Mitglieder würden bei der Finanzierung helfen.
       Heckhoff zeigt sich selbstkritisch: „Das hätte man durchaus auch vorher
       machen können.“
       
       Die Gruppe hat sich auch an die Stadtpolitik gewendet, denn die sicherste
       Lösung des Problems wäre institutionelle Unterstützung. Aber das ist nicht
       leicht. Das Kulturamt befürwortet den Kunstraum zwar, konnte mit Geldern
       jedoch nicht helfen. Ende des Monats besucht der Westpol das Forum des
       Stadtbezirksbeirats Leipzig-Südwest und stellt sein Anliegen dort vor. Bald
       soll auch eine Crowdfundingaktion anlaufen.
       
       Der nächste Schritt könnte sein, die Ausstellungstätigkeit zu
       professionalisieren. Ausstellungsverträge, durch die bei einem Verkauf
       gezeigter Kunstwerke 20 Prozent an den Verein gehen, werden diskutiert. Das
       ist zwar viel weniger, als eine Galerie üblicherweise nehmen würde,
       trotzdem würde der Kunstraum sich kommerzialisieren. Der Versuch, die
       Existenz des Westpols zu erhalten, ist ein Balanceakt. Die eigene Identität
       soll nicht verloren gehen.
       
       ## Wie können idealistische Konzepte überleben?
       
       Joachim Blank, Professor für Medienkunst an der Hochschule für Grafik und
       Buchkunst, ist einer von fünf bekannten Kulturvertretern, die ein
       Unterstützerschreiben veröffentlicht haben. Er nennt den Westpol eine
       „elementare Schnittstelle regionaler und internationaler Kunst in Leipzig“.
       „Es geht Blank um diesen Raum“, sagt Heckhoff und deutet auf eine
       Fotografie, die eine riesige Hasenskulptur zeigt. Die Löffel des
       sechseinhalb Meter großen Hasen von Heinz Schmöller aus der Ausstellung
       „Shining“ streifen fast die Hallendecke. „Das ist eine Räumlichkeit, die
       findet man sonst nur im musealen Kontext“, erklärt Heckhoff.
       
       Die Dimensionen der Halle machen es möglich, auch sehr große Installationen
       zu realisieren, und erlauben weit mehr, als „nur“ Bilder an die Wände zu
       hängen. Die Möglichkeit, in einem solchen Raum als nichtkommerzieller
       Künstler auszustellen, sei weit über die Stadtgrenzen hinaus ein seltener
       Glücksfall.
       
       Der Eigentümer des Westwerks ist die Corpure GmbH & Co KG. Deren
       Geschäftsführer Christian Voigt, der gegenüber der taz keine Stellungnahme
       abgeben wollte, hat eine Vision vom Westwerk als Ort der Kultur und
       Begegnung. Dabei ist das Ziel allerdings auch wirtschaftlicher Gewinn.
       Anfang dieses Jahres sagte er in einem Interview mit dem Kundenmagazin
       einer Privatbank, es gehe darum, „Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr
       Umfeld für Leben und Arbeit selbst zu gestalten und dabei für uns ein
       wirtschaftlich erfolgreiches Projekt zu entwickeln“.
       
       Die Fragen, die sich hier stellen, sind typisch für die rasante
       Stadtentwicklung, die hier in Leipzig nicht zuletzt auf die wachsende
       Kunstszene zurückgeht. Wie können idealistische Konzepte an Orten
       kultureller und sozialer Begegnung, die auf privatem Besitz beruhen,
       überleben? Helfen Transparenz und Kommunikation altbekannte
       Gentrifizierungsmuster zu überwinden?
       
       Naroma Kousidonis lässt sich in den alten Sessel neben dem Ofen fallen und
       sagt: „Wir könnten eigentlich ein gutes Beispiel dafür sein, dass es nicht
       immer nur um Kommerzialisierung und Nichtkommerzialisierung geht – dass
       hier auch Mischkultur funktioniert.“
       
       Am Mittwoch fand ein weiteres Gespräch zwischen Westpol und Verwaltung
       statt, abermals ohne den Vermieter. Die Kündigung bleibt bislang bestehen.
       Aber immerhin redet man weiter miteinander, um einen Weg zu finden. Für das
       Jahr 2017 hatte der Westpol schon viele Ausstellungen in Planung. Im Januar
       laufen nun erst einmal dringende Sanierungen an, ganz gleich, wie die
       Gespräche ausgehen.
       
       27 Nov 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://westpolairspace.wordpress.com/
   DIR [2] http://westwerk-leipzig.de/wordpress/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tabea Köbler
       
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