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       # taz.de -- Ein Jahr Ausnahmezustand in Frankreich: Die getrübte Leichtigkeit des Seins
       
       > Am 13. November 2015 töten Islamisten 130 Menschen in Paris. Wie haben
       > die Anschläge das Leben verändert? Ein Jahr danach.
       
   IMG Bild: Anschlagsziel „La Belle Équipe“. Insgesamt starben 130 Menschen, 413 wurden verletzt
       
       Paris taz | Fluctuat nec mergitur. Es schwankt, aber geht nicht unter.
       Dieser dem Wappen von Paris entnommene lateinische Wahlspruch wurde einen
       Tag nach den Anschlägen vom 13. November 2015 in großen Lettern an den
       Eiffelturm projiziert. Seither ist das Wappenbild eines von Wellen
       geschaukelten, aber widerstandsfähigen Schiffs zum Sinnbild der Haltung der
       Pariser gegenüber der terroristischen Bedrohung geworden. Wie ist das Leben
       ein Jahr danach?
       
       Zunächst war da die Stille. Während der Fahndung nach den Tätern riet die
       Regierung den Parisern zunächst, ihre Häuser nicht zu verlassen. Die
       Straßen waren leer. Kein Autolärm, kein typisch pariserisches Motorhupen.
       Die paar Menschen, die sich auf die Straßen wagten, huschten schnell wie
       Geister vorüber. Die Stadt schien gelähmt. Nur ein Geräusch war
       unaufhörlich zu hören: Sirenen, Tag und Nacht. Tage später strömten die
       Menschen auf die Straßen, besetzten allmählich wieder die Cafés und
       Restaurants. Der Alltag war wieder da. Aber etwas war anders.
       
       Soldaten mit Maschinenpistolen in der Hand patrouillieren durch die Straßen
       von Paris. Sie stehen in Gruppen vor Behörden und Sehenswürdigkeiten,
       gelegentlich vor Schulen zu Öffnungs- und Schließzeiten. An den Toren
       öffentlicher Gebäude hängt ein weißes Blatt mit einem roten Dreieck.
       Darunter steht: „Alerte Attentat.“ Terroralarm.
       
       „Es gibt eine reelle Angst. Wir sind alle vorsichtiger. Wir wissen heute,
       dass wir Zielscheibe sein können“, sagt der Hochschuldozent und Buchautor
       Jean-Baptiste Guégan. Er beobachtet seit den Attentaten auf Charlie Hebdo
       am 7. Januar 2015 und den November-Anschlägen eine Veränderung im
       Sozialverhalten der Menschen. Er nennt es eine „gesteigerte Feinnervigkeit
       und Erregbarkeit“. In den Metros würden sich die Menschen genauer taxieren.
       
       Noch in der Nacht zum 14. November 2015, als in Paris die Attentäter noch
       wüteten, verkündet der französische Präsident François Hollande, alle
       Grenzen Frankreichs zu schließen, und verhängt den Ausnahmezustand. Er
       bezeichnete die Anschläge als einen Akt des „Krieges“, eine Wortwahl, die
       bis heute vielen aufstößt. Auch der Ausnahmezustand, der bis Januar 2017
       verlängert wurde, wird scharf kritisiert. Ein Leitartikel der Zeitschrift
       Esprit formulierte pointiert: „Auf dem Weg zu einem permanenten
       Ausnahmezustand? Frankreich in der Falle“ und fordert: „Wir erwarten eine
       andere politische Parole als eine, die die Demokratie schwächt, in der das
       Sicherheitsgefälle gegen den permanenten Ausnahmezustand eingelöst wird.“
       
       Auch die Sängerin Chrystelle Nammour sieht den Ausnahmezustand als
       zweischneidiges Schwert: „Das Klima, welches einem durch den
       Ausnahmezustand aufoktroyiert wurde, beruhigt die Bevölkerung zum einen.
       Sie erinnert uns aber auch ständig an den Horror, den wir erlebt haben.“
       Die 28 Jahre alte Musikerin hat wenige Tage nach den Anschlägen im November
       vergangenen Jahres einen Song geschrieben mit dem Titel „Paris se relève“
       (Paris erhebt sich). Der Song ist auf YouTube zu finden. Nammour hat ihn
       den Opfern der Attentate gewidmet.
       
       ## Gewandeltes Verständnis
       
       Die Französin mit libanesischen Wurzeln beobachtet, dass vor allem die
       extreme Rechte in Frankreich seitdem auf dem Vormarsch sei.
       Nationalistische Sprüche, die darauf ausgerichtet seien, die Angst vor dem
       Fremden zu schüren. Ähnlich sieht es auch der Études-Chefredakteur Euvé
       François, der in einem Aufsatz schreibt: „Diese Gemeinschaft ist fragil.
       Wir erleben die Rückkehr rassistischer Ausdrücke.“ Die Sängerin Nammour
       beobachtet allerdings, dass damit eine „stärkere Solidarität“ gegenüber dem
       rechten Block einhergehe. „Die Menschen trauen sich viel mehr, Rassismus
       und Xenophobie anzuprangern, wenn sie Zeugen sind“, konstatiert Nammour.
       
       „Die Wahrnehmung von Gewalt hat sich gewandelt“, stellt die Psychologin
       Viviana Dore fest. „Sie ist heute verankert als ein Element des Möglichen
       im Leben. Die vielen Anschlägen in anderen Ländern und die Attentate vom
       14. Juli in Nizza haben eine andere Perspektive auf die Beziehung zum
       Anderen offenbart.“ Dore, die seit den Pariser Anschlägen auch Betroffene
       in Therapie hat, beobachtet, dass viele Menschen ihre Fassungslosigkeit
       über die Ereignisse in Worte fassen wollen.
       
       So hat Guégan gemeinsam mit zwei Freunden ein Buch geschrieben, Titel
       „Sortir du Bataclan“ (Den Bataclan hinter sich lassen). Sein Freund Charles
       Nadaud war am 13. November 2015 im Bataclan und hat das Attentat überlebt.
       Im Buch beschreibt er detailliert, wie die Minuten während des Anschlags in
       dem Konzertsaal abliefen, die Rettung der Opfer, und wie für ihn die
       Stunden, Tage und Monate danach waren.
       
       „Ich fühle mich anders und verschoben von der Welt, die mich umgibt“,
       schreibt Nadaud. Anstatt in der Opferrolle zu verharren, hat er mithilfe
       von Familie, Freunden und einer Therapie sein Leben wieder in die Hand
       genommen und ist, wie er es beschreibt, wieder zum „Akteur geworden“.
       
       ## „Paris – ein Fest für das Leben“
       
       Genau diese Haltung bewundert die Psychotherapeutin Dore. „Die Einstellung
       der Pariser ist es zu leben. Das ist bemerkenswert. Die Orte einnehmen, an
       denen die Attentate verübt wurden, ausgehen und mit Leben füllen“, so die
       Psychologin. „Fern von jeder Resignation zeigen die Pariser einen Willen,
       der sich nicht der Angst unterordnet, auch wenn sie diese empfinden, zeigen
       sie eine starke Widerstandsfähigkeit.“
       
       Auch die 78 Jahre alte Danielle Mérian wollte sich nicht der Angst
       verschreiben, sondern ging am 14. November 2015 zum Bataclan und legte
       Blumen auf die Straße. Sie, eine Pariserin, wurde von einem Reporter
       gefragt, warum sie gekommen sei. Und da fiel ihr Ernest Hemingways Spruch
       ein: „Paris – ein Fest für das Leben“ (Paris est une fête). Hemingways Satz
       über seine Pariser Zeit in den 1920er Jahren wurde zur Devise. Das Rathaus
       übernahm die berühmte Phrase, um dem Negativsog der Attentate etwas
       entgegenzusetzen. Denn die französischen und ausländischen Touristen
       blieben der Stadt zunächst spürbar fern.
       
       Der 37-jährige Guégan sitzt in einem Café des 17. Arrondissements von
       Paris. „Es gibt nicht mehr die gleiche Naivität wie früher“, meint er. Die
       Welt würde man anders betrachten, es gebe ein höheres Bedürfnis nach
       Erklärungen. Als Dozent für Geschichte und Geografie erlebe er, dass seine
       Studenten ihn mit Fragen löchern. Guégan sieht nicht, dass Paris bald
       wieder so unbeschwert werde wie zuvor. Schließlich habe auch der 11.
       September 2001 die Vereinigten Staaten und New York nachhaltig verändert.
       Die Erinnerungen an die Anschläge seien frisch. „Sie sind ein Teil unserer
       Gegenwart geworden.“ Und gleichzeitig weiß er, dass man nach vorne blicken
       muss, eben weil sein Freund seine Leidensgeschichte mit ihm geteilt hat.
       „Der Terrorismus hat keine Chance, wenn die Gesellschaft einen Block
       bildet.“
       
       ## Die Realität vor der Stadtgrenze
       
       Die Einheit der Gesellschaft ist jedoch ein Streitpunkt. Frankreich ist ein
       Land, in dem die Integration vieler muslimischer Jugendlicher prekär
       bleibt. Zwei Aspekte traten mit den Anschlägen in den Vordergrund. Erstens
       richtete sich das Augenmerk auf die Banlieues, die einige Attentäter
       hervorgebracht hatten. Denn die Pariser in ihrem schillernden Kleinod
       ignorieren gern diese andere Realität vor ihren Stadtgrenzen. Und zweitens
       wurde ein Gefühl des Sich-in-Sicherheit-Wähnens in Europa zerschmettert.
       Bis dato schienen Attentate wie die vom 13. November auf andere Teile
       dieser Welt beschränkt. Plötzlich aber war diese Variante des wahllosen
       Terrorismus mit den Pariser Anschlägen auch in Europa angekommen. „Der
       islamistische Terrorismus hat dazu geführt, dass das politische und soziale
       Modell unserer Republik infrage gestellt wird“, konstatiert Autor Nadaud.
       „Die terroristischen Attentate haben die Republik geschwächt und ihre
       Brüche offenbart.“
       
       Heute ist ein grauer Novembertag 2016. Die Fußball-Europameisterschaft im
       Sommer war zwischenzeitlich geglückt. Aber bei dem Anschlag am
       Nationalfeiertag vom 14. Juli an der Strandpromenade in Nizza wurden 80
       Menschen überfahren und mehr als 300 verletzt. Am 26. Juli ermordeten
       IS-Anhänger den Priester Jacques Hamel während einer Messe in
       Saint-Étienne-du-Rouvray. Das Leben der Franzosen und Pariser mag von einer
       gewissen Gelassenheit geprägt sein, doch Normalität und Ausnahmezustand
       schließen sich per definitionem aus.
       
       12 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Maryam Schumacher
       
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