URI: 
       # taz.de -- Organspendeskandal in Hamburg: Ein Winterkorn im weißen Kittel
       
       > Ein Expertenbericht deckt Ungereimtheiten bei Lungentransplantationen im
       > Hamburger Uniklinikum auf. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
       
   IMG Bild: Verschwundene Akten, seltsame Blutdaten und groteske Erklärungen – das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
       
       Hamburg taz | Er wollte expandieren. Mehr Operationen, mehr Fallzahlen,
       mehr Tätigkeitsbereiche. Die Leitung der Herzchirurgie am
       Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) war nicht genug. Er wollte
       auch Chef des „Universitären Transplantations-Centrums“ sein. Und er wollte
       nicht nur Herzen verpflanzen, auch Lungen. „25 pro Jahr“ sollten es sein,
       verkündete Professor Hermann Reichenspurner 2003. Dass immer noch Patienten
       nach Kiel oder Hannover gingen, sei zu bedauern.
       
       Gelegenheiten, für sich und den Ausbau der Transplantationsmedizin in
       Hamburg zu werben, ließ Reichenspurner ungern verstreichen. Die Medien
       lieben den smarten Chirurgen. Bereitwillig erläutert der 57-Jährige fürs
       Publikum sowohl die Fortschritte bei „minimalinvasiven Eingriffen“ an der
       Aortenklappe als auch die Chancen von Lungenkranken, mit transplantiertem
       Organ wieder Belastungssport zu treiben. Seine Stimme schwingt dabei im
       Klang seiner bayerischen Heimat, nicht in der derben, sondern in der
       süßlichen Variante. „Herz-Ass“ nennt ihn das Hamburger Abendblatt.
       
       Jetzt ist der Mediziner für Interviews nicht erreichbar. Die
       Staatsanwaltschaft ermittelt „gegen Unbekannt“ im Transplantations-Centrum
       Hamburg, das Reichenspurner untersteht, wegen „Dokumentenunterdrückung“. Es
       geht um das „spurlose Verschwinden“ von Patientenakten. Das haben
       Recherchen der NDR-Sendung „Panorama 3“ und der taz ergeben.
       
       Der Hintergrund: Angaben über Patienten, die auf eine Lunge warteten,
       sollen gefälscht worden sein. Ärzte des Lungentransplantationsprogramms, in
       dem das UKE mit der LungenClinic Großhansdorf nordöstlich von Hamburg
       zusammenarbeitet, sollen in 14 Fällen den Zustand von Patienten schlechter
       dargestellt haben, als er war. In Anträgen auf Spenderlungen gaben die
       Ärzte für ihre Patienten extrem niedrige Sauerstoffsättigungswerte von
       teilweise weniger als 70 Prozent an, was lebensbedrohlich ist. Dadurch
       sollten die Patienten offenbar auf der Liste nach oben rutschen und als
       „Fälle mit hoher Dringlichkeit“ schneller eine Lunge erhalten.
       
       ## Unlautere Bevorzugung
       
       Der Verdacht liege nahe, dass der Zustand der Hamburger Patienten nicht
       ganz so kritisch war und es somit zu einer unlauteren Bevorzugung kam. So
       steht es in dem aktuellen 12-seitigen Untersuchungsbericht. Darin fasst die
       „Prüfungs- und Überwachungskommission“ aus Bundesärztekammer,
       Krankenkassenverband und Deutscher Krankenhausgesellschaft die Ergebnisse
       von drei Besuchen am UKE und in Großhansdorf im Jahr 2015 zusammen. Es geht
       um Vorgänge aus den Jahren 2010 bis 2012.
       
       Die Befunde erinnern an den Skandal um manipulierte Daten von Leberkranken
       an der Uniklinik Göttingen und weiteren Zentren von 2012, dessen
       Aufarbeitung andauert. Der Hamburger Transplantationschef Reichenspurner
       wurde damals als Autorität angerufen. „Es macht mich traurig zu sehen, dass
       nach den jüngsten Skandalen bei der Zuteilung der Spenderorgane die
       Spendenbereitschaft zurückgeht“, ließ er sich zitieren.
       
       Auf die Frage der Bild am Sonntag, wie sich solche Skandale verhindern
       ließen, antwortete Reichenspurner: „Durch mehr und bessere Kontrollen. Zum
       Beispiel, indem die Befunde nochmals überprüft werden, bevor sie an
       Eurotransplant [teilt Spenderorgane zu, Anm. der Redaktion] gehen.“ Diese
       Worte klingen jetzt wie Hohn. Wusste Reichenspurner nicht, dass sich die
       Ärzte in seinem eigenen Lungentransplantationsprogramm ganz ähnliche
       Verfehlungen hatten zuschulden kommen lassen? Oder dachte der Mediziner,
       dass die Tricksereien nicht aufflögen?
       
       ## Die Akten sind verschwunden
       
       Der Ruf nach „besserer Kontrolle“ holt Reichenspurner nun ein. Denn als
       Konsequenz aus dem Göttinger Skandal wurde die „Prüfungs- und
       Überwachungskommission“ erst geschaffen. „Ganz außergewöhnlich“ finden die
       Experten der Kommission, dass die Akten von Transplantationspatienten auf
       dem Weg von Großhansdorf ins UKE abhanden gekommen sein sollen. „Trotz
       mehrfacher und eindringlicher Bitten der Kommission, nach dem Verbleib der
       Akten sowohl in der LungenClinic als auch im UKE zu forschen, konnten die
       Originaldokumente bis jetzt nicht zur Verfügung gestellt werden“, heißt es
       in dem Bericht.
       
       Auch die von einer „Archiv- und Dokumentationskraft entfalteten
       Suchaktivitäten“ hätten keinen Erfolg gebracht. Die Kommission lässt
       erkennen, dass sie am „spurlosen Verschwinden“ zweifelt. Sie äußert
       „vielmehr den Verdacht, dass […] systematisches Fehlverhalten der
       beteiligten Ärzte vor Entdeckung bewahrt werden sollte“.
       
       Das Fehlen wesentlicher Originalunterlagen habe die Aufklärung zwar
       erheblich erschwert. Dennoch stellten die Kontrolleure anhand vereinzelter
       Kopien „Ungereimtheiten bei der Blutgasbestimmung“ fest. So seien „grotesk
       niedrige Sauerstoffsättigungen“ von 69 bis 75 Prozent aufgezeichnet worden.
       Das sei „selbst bei Gesunden mit dem Leben nicht vereinbar“. Mit anderen
       Worten: Die beiden Kliniken hätten den Zustand ihrer Patienten als so
       schlecht dargestellt, dass sie eigentlich schon gestorben sein müssten.
       
       ## Groteske Erklärungen vom Fachpersonal
       
       Aus den wenigen vorgefundenen Unterlagen sei hervorgegangen, dass noch
       unmittelbar vor dem Antrag auf dringende Organspende deutlich bessere
       Sättigungswerte von um die 90 Prozent gemessen worden seien. Die
       Kontrolleure vermuten daher, dass die Ärzte die Werte durch Entnahme von
       venösem statt arteriellem Blut und durch Drosselung der künstlichen
       Sauerstoffzufuhr mutwillig gedrückt hatten.
       
       Am 2. August 2016 legte das hauptverantwortliche UKE der
       Überwachungskommission eine Stellungnahme vor. Darin räumen die Hamburger
       die zeitweilige Senkung der Sauerstoffzufuhr ein – und liefern zwei
       merkwürdige Begründungen. So habe man in einigen Fällen durch Vorenthalten
       von Sauerstoff „den Atemantrieb“ der Patienten „verbessern“ wollen. In
       anderen Fällen hätten Patienten die Möglichkeit gehabt, ihre
       Sauerstoffzufuhr eigenhändig zu erhöhen und zu verringern.
       
       Diese Erklärungen werden in dem Untersuchungsbericht mit kaum verhohlener
       Ironie quittiert. Die Kommission könne weder glauben, dass im UKE das
       Behandlungskonzept der „Sauerstoffmangeltherapie“ praktiziert werde, noch
       könne sie sich vorstellen, dass intensivmedizinisch behandelte Kranke „nach
       Gutdünken“ den Sauerstoffzufluss selbst regulieren könnten.
       
       ## „Berechtigte Kritikpunkte“
       
       „Wir wollten den Ausnahmecharakter unserer Befunde sehr deutlich machen“,
       begründet Kommissionsmitglied Torsten Verrel die Schärfe des Berichts.
       Verrel ist Professor für Strafrecht in Bonn. Dass sich nun die
       Staatsanwaltschaft den Fall vornimmt, hält er für folgerichtig. Auf Anfrage
       von „Panorama 3“ und der taz erkennen UKE und LungenClinic Großhansdorf
       „berechtigte Kritikpunkte aus dem Prüfungsbericht an“. Die Kliniken weisen
       jedoch den Vorwurf zurück „in die Rangfolge von Patienten auf der
       Transplantationsliste“ eingegriffen zu haben.
       
       Nach Informationen von „Panorama 3“ ist die Sterberate der Hamburger
       Lungentransplantierten überdurchschnittlich. Das UKE wollte sich dazu nicht
       äußern. Die Hamburger Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz,
       zuständig für die Aufsicht über das UKE, teilt mit, dass sie den
       Untersuchungsbericht „sehr ernst“ nehme. Man habe die „verantwortlichen
       Vertreter des UKE“ zur Stellungnahme aufgefordert. Diese liege seit Kurzem
       vor und werde analysiert. „Berufsrechtliche Konsequenzen“ würden geprüft.
       
       In Fachkreisen ist der Ärger groß. Als „außerordentlich misslich“
       bezeichnet der Transplantationsmediziner Axel Haverich die Hamburger
       Tricksereien. Haverich leitet das Transplantationszentrum in Hannover.
       Seine Einrichtung wurde ebenfalls von der Kommission geprüft – ohne
       Beanstandungen. Ihm hatte Reichenspurner den Rang ablaufen wollen. Haverich
       fürchtet, dass der neue Skandal die eh nur mäßige Bereitschaft zur
       Organspende noch dämpfen werde. Vertrauensbrüche könne sich das Fach nicht
       leisten. Kaum kann Haverich sich die Forderung verkneifen, das Hamburger
       Lungentransplantationsprogramm zu beenden. Ein solches Fachzentrum brauche
       ein entsprechendes Qualitätsmanagement, und das sei „im UKE offensichtlich
       nicht vorhanden“.
       
       ## Welche Rolle spielte der Ehrgeiz des Chefs?
       
       Die Überwachungskommission hat ihren Job in Hamburg erledigt. Ob am Ende
       jemand, und wer genau, zur Rechenschaft gezogen wird, ist noch unklar. Wird
       sich die Aufarbeitung auf die Stationsärzte beschränken? Oder werden
       Strafverfolger und Aufsichtsbehörde auch der Frage nachgehen, welche Rolle
       der Ehrgeiz des Chefs gespielt hat? Der Fall erinnert an den gestürzten
       VW-Boss Martin Winterkorn, der unbedingt wollte, dass sein Soll, niedrige
       Schadstoffwerte bei Dieselfahrzeugen und niedriger Verbrauch, erfüllt wird.
       Als die Ingenieure es nicht schafften, manipulierten sie die Werte.
       Vielleicht ist Reichenspurner ein Winterkorn im weißen Kittel?
       
       Das UKE sprach am Montag seinem Spezialisten das „volle Vertrauen aus“.
       Erste Konsequenzen sind dennoch bereits gezogen. Die Bundesärztekammer
       teilte mit, Reichenspurner sei aus seinen Ämtern in der „Ständigen
       Kommission Organtransplantation“ vorzeitig „verabschiedet worden“.
       
       Dienstag, 21.15 Uhr: [1][„Panorama 3“], NDR-Fernsehen
       
       15 Nov 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Buchen
       
       ## TAGS
       
   DIR Hamburg
   DIR Organspende
   DIR Organspende-Skandal
   DIR UKE
   DIR Organtransplantation
   DIR Organspende
   DIR Griechenland
   DIR Dieselskandal
   DIR Transplantation
   DIR Organspende
   DIR Organspende
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Hamburger Spenderorgange-Gesetz: Mehr Herz für Transplateure
       
       Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) will die Zahl
       der Organspenden an den Kliniken erhöhen.
       
   DIR Nichtspender über Organspenden: „Das sind immer noch meine Organe“
       
       In Deutschland werden immer weniger Organe gespendet. Warum ist das so? Ein
       Nichtspender schildert seine Bedenken.
       
   DIR Deutscher in Griechenland verurteilt: Das Urteil bleibt ein Skandal
       
       Ein deutscher Rentner, der syrische Flüchtlinge über die Ägäis
       transportierte, wurde in der Revision vor einem Gericht schuldig
       gesprochen.
       
   DIR Aufklärung des Abgasskandals: Der schweigsame Herr Winterkorn
       
       Der Ex-VW-Chef trägt vor dem Untersuchungssausschuss wenig zur Aufklärung
       des Abgasskandals bei. Damit könnte er dem Konzern viel Geld ersparen.
       
   DIR Manipulationen bei der Organverteilung: Staatsanwälte im Herzzentrum
       
       Noch ermitteln die Staatsanwälte. Doch schon jetzt ist sicher, dass die
       Kriterien für die Dringlichkeit einer Herztransplantation geändert werden.
       
   DIR Kriterien der Transplantationsmedizin: Das große Leberversagen
       
       Der Skandal um die Vergabe von Spenderlebern sollte aufgearbeitet werden.
       Doch der Prüfbericht ist schlampig, widersprüchlich und willkürlich.
       
   DIR Kommentar Organspendeskandal: Der Wert der Solidarität
       
       Das Vertrauen in die Transplantationsmedizin ist futsch. Schuld daran ist
       aber nicht das Fehlverhalten einzelner Ärzte. Sondern das Versagen des
       Gesetzgebers.
       
   DIR Transplantationsskandal in Leipzig: Anreize zum Organhandel
       
       Nach dem Organspendeskandal in Leipzig ist eine Debatte unter Ärzten
       entbrannt. Sie fordern, die Zahl der Transplantationszentren zu verringern.
       
   DIR Ärzte gestehen erstmals Versagen: Operation gelungen, Patient tot
       
       Erstmals räumen deutsche Mediziner in einer Broschüre persönliches Versagen
       ein. Führt das Ärzte-Outing zur Entzauberung des Mythos vom Halbgott in
       Weiß?