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       # taz.de -- Ballroom Culture im Berliner HAU: She’s a pretty boy
       
       > Voguing wird in Deutschland immer beliebter. Die Szene bietet all
       > denjenigen Platz, die benachteiligt oder ausgegrenzt sind.
       
   IMG Bild: Beim Tit Bit Ball im November 2015, damals noch im Berliner Südblock
       
       Aus den Boxentürmen im Theater am Halleschen Ufer in Berlin- Kreuzberg
       pumpen treibende House-Beats, hinter den Decks hüpft der MC auf und ab.
       Unter ihm auf dem Runway läuft ein schmächtiger Mann in High Heels, sein
       Oberkörper ist in eine bunte Stoffblüte gehüllt.
       
       Vor der Jury am Ende des Laufstegs schält er sich elegant aus den Blättern
       und steht in knappem Höschen und einem bodenlangen Mantel aus Fischernetz
       da. Dramatische Pose – das Publikum, das zu beiden Seiten auf
       stufenförmigen Tribünen sitzt, tobt.
       
       „Gimme Bizarre“, ruft eine Frau mit Afro rhythmisch ins Mikrophon. Georgina
       Leo Melody ist nicht nur Host dieses „Incrediballs“, der im Rahmen des 5.
       Berlin Voguing Out Festivals stattfindet – dem bereits zweiten in diesem
       etablierten Berliner Theater. Melody ist auch der Kopf einer ganzen Szene.
       
       Inspiriert durch einen Tanzworkshop bei der New Yorker Voguing Legende
       Archie Burnett veranstaltete die studierte Tänzerin vor vier Jahren das
       erste Voguing Festival mit ihrer Kollegin Mic Oala, damals noch in
       wechselnden, vor allem queer konnotierten Locations – und brachte damit den
       Tanzstil nach Deutschland. Mittlerweile wird Voguing immer beliebter.
       Tanzstudios bieten entsprechende Kurse an.
       
       „Beim Voguing ahmt man die Posen der Covermodels von Modemagazinen nach.
       Erst aus der Aneinanderreihung der Posen ist der Tanz entstanden“, erklärt
       Mitorganisatorin Mic Oala die kantigen, dramatischen Bewegungen. Mit jedem
       Schlag der Musik posieren die bunt kostümierten Tänzerinnen und Tänzern auf
       dem Laufsteg für eine imaginäre Kamera.
       
       ## Ballroom Culture
       
       Entstanden ist die sogenannte Ballroom Culture in der queeren New Yorker
       Subkultur der 1960er Jahre, weltweite Beachtung fand sie 1991 durch Jennie
       Livingstons Dokumentation „Paris is Burning“.
       
       Sie zeigt die New Yorker Szene der 1980er Jahre, deren Mitglieder, meist
       Transsexuelle, Schwule und People of Colour, bei Drag Balls gegeneinander
       antreten, um eine vorgegebene Rolle möglichst authentisch durch
       Kostümierung und Tanz zu verkörpern. Aus diesen Walks entwickelte sich das
       Voguing. Doch was nach ungehemmtem Spaß aussieht, hat einen ernsten
       Hintergrund.
       
       Für die New Yorker Queer Szene bot Voguing die Flucht in eine Parallelwelt,
       in der die Leute Anerkennung erfuhren, die ihnen gesellschaftlich oft
       verwehrt blieb. In den geschützten Räumen der Balls wurden die
       Ausgegrenzten zu Stars, erlebten seltene Momente der Freiheit und konnten
       ihren oft harten Alltag für den Augenblick vergessen.
       
       Da viele Queers, Transpersonen und People of Colour aufgrund ihrer
       vermeintlichen Andersartigkeit bis heute oft aus konventionellen
       Beschäftigungsverhältnissen ausgeschlossen werden, werden sie häufig in die
       Armut oder Illegalität gedrängt.
       
       Viele Anhänger der frühen Voguing-Szene waren obdachlos und gezwungen, als
       Prostituierte zu arbeiten. Die Stoffe, aus denen sie die extravaganten
       Kostüme schneiderten, mussten sie häufig stehlen – Mopping wurde das im
       Szenejargon genannt.
       
       ## Madonna
       
       Nachdem Madonna für ihre „Blond Ambition Tour“ 1990 Ballroom-Tänzer buchte,
       wurde Voguing auch im Mainstream bekannt – mittlerweile sind Rhianna und
       Beyoncé mit Voguern auf Tour, Willow Smith lässt sich von ihnen das „Hair
       Whipping“ beibringen und FKA Twigs interpretiert den Stil passend zu ihrem
       Future R ’n’ B-Sound neu.
       
       Obwohl dies durchaus eine Wertschätzung der Szene bedeutet und Jobs für
       Tänzer schafft, sieht Mic Oala diese Entwicklung auch kritisch. Meist
       würden auf den Touren nur schlanke, weiße Cis-Frauen als Tänzerinnen
       gebucht. „Eine schwule Black Queen auf High Heels oder eine Big Queen
       außerhalb der heteronormativen Körpernorm abgehen zu sehen, ist für das
       Mainstream Publikum oft immer noch zu verrückt.“
       
       Die Voguing-Szene bietet Platz für diejenigen, die benachteiligt oder
       ausgegrenzt werden. Alter, Herkunft, Aussehen oder Können spielen keine
       Rolle. Im Gegensatz zur New Yorker Szene, die traditionell eher von homo-
       und transsexuellen Männern dominiert wurde, ist die deutsche Szene auch
       offen für Frauen und Menschen außerhalb der queeren Community.
       
       Mic Oala sieht darin keinen Widerspruch: „Voguing ist Selbstermächtigung.
       Ob du ’ne Skinny Bitch bist oder so ’nen Arsch hast, Mann oder Frau oder
       irgendwas dazwischen – es geht darum, dich mit dem was du hast
       wohlzufühlen.“ Wie divers die Szene in Deutschland ist, spiegelt sich auch
       beim „Incrediball“ im Berliner HAU2.
       
       Eine rothaarige Frau Mitte Vierzig vogued im Prince-Gedächtnis-Look mit
       lila Jacket und Rüschenkragen, ein spindeldürrer schwarzer Mann posiert in
       weißen Strapsen mit High Heels neben einem gedrungenen Asiaten mit Bart und
       Herrenanzug.
       
       ## House
       
       Eine Vierergruppe in schwarzen Lederoutfits ist extra aus Russland
       angereist, andere kommen aus Litauen, Tschechien und Holland, um hier auf
       dem Runway für ihr House gegeneinander anzutreten. A propos House.
       
       „Ein House ist eine Familie für Menschen, die keine Familie haben“,
       definierte Pepper LaBeija, eine zentrale Figur der New Yorker Szene der
       1980er Jahre, in „Paris is Burning“. Ganz oben in der Hierarchie dieser
       Wahlfamilien steht die „Mother“, im Fall des ersten deutschen Voguing
       Houses „House of Melody“ ist dies – natürlich – Georgina Leo Melody.
       
       Sie bestimmt, wer in ihr House, das zur Zeit aus 13 Mitgliedern besteht,
       aufgenommen wird und wer auf den Balls in welcher Kategorie laufen darf.
       „Als Mitglied eines Houses trägst du eine größere Verantwortung, da du den
       Namen trägst und das House auf den Balls repräsentierst“, erklärt Andra
       Wöllert, Mitglied des legendären internationalen House of Mizrahi.
       
       Die freiberufliche Journalistin vogued schon seit über fünf Jahren, vor
       Kurzem wurde sie nach einem Ball im House of Mizrahi aufgenommen; eine
       große Ehre in der Szene. Auf den Balls treten die Houses in
       unterschiedlichen Kategorien gegeneinander an.
       
       Old Way, die Ursprungsform des Tanzstils, zeichnet sich durch kantige
       Bewegungen aus, New Way, eine spätere Form, nimmt akrobatische Verrenkungen
       mit auf, Vogue Femme, die jüngste Form, verkörpert eine fast hysterische
       Weiblichkeit.
       
       ## Realness
       
       Erstmals gibt es in Berlin auch sogenannte „Realness Kategorien“. In der
       Kategorie „Pretty Boy Realness“ geht es darum, als schwuler, eher femininer
       Mann einen heterosexuellen Mann überzeugend zu verkörpern – aber bitte
       pretty! Eben noch in Glitzerleggings und High Heels schlendern einige
       männlichen Tänzer nun in Cordsakko und Krawatte über den Laufsteg.
       
       „She’s a pretty boy“, kommentiert Georgina Leo Melody mehr rappend als
       sprechend über das Mikrofon. He oder she, Femme oder Butch – alles ist
       fließend, binäre Geschlechterkategorien lösen sich im kollektiven Wir auf.
       
       Obwohl sich Voguing in Deutschland, anders als in den USA, aus
       Tänzerkreisen heraus entwickelt hat, ist die Nähe zur LGBTQ-Szene
       essentiell. Für Mic Oala bleibt daher trotz aller Öffnungen der Szene das
       Anliegen, diejenigen, die wegen ihres Genders oder ihrer Hautfarbe
       benachteiligt werden, nach vorne zu stellen.
       
       Das Thema kulturelle Aneignung, also die Übernahme kultureller
       Ausdrucksformen einer marginalisierten Minderheit durch die privilegierte
       Mehrheit, ist für sie zentral: „Wenn wir Voguing in Deutschland etablieren
       wollen, braucht es Respekt und ein Bewusstsein für die Anfänge dieser
       Subkultur. Keiner von uns hier ist im Getto aufgewachsen, das Märkische
       Viertel ist nicht die Bronx.“
       
       16 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Laura Aha
       
       ## TAGS
       
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