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       # taz.de -- Roman „Oh Schimmi“ von Teresa Präauer: Kleinwuchs und Größenwahn
       
       > Teresa Präauers hochbegabter Held in „Oh Schimmi“ möchte kein Würstchen
       > sein. Er leistet Widerstand durch Sprachverschiebung.
       
   IMG Bild: Teresa Präauer überlässt sich vertrauensvoll dem Treiben der Mehrdeutigkeiten
       
       „Malmaterial und seine Verwendung im Bilde“ heißt eine alte Bibel für
       Kunststudierende, in der vor fast hundert Jahren der Münchner
       Malerei-Professor Max Doerner das gesammelte Wissen seiner Zeit über
       Pigmente, Lösungs- und Bindemittel, Grundierungen und Maltechniken
       niederschrieb. Ob es wohl ein vergleichbares Standardwerk für angehende
       Autorinnen à la „Sprachmaterial und seine Verwendung im Buche“ gibt, mit
       systematischen Erläuterungen zur schwunghaften Verwendung von Phonemen,
       Phrasen, Polysemen und grundierender Diskursanalyse?
       
       Die schreibende und zeichnende Künstlerin und Exkunststudentin Teresa
       Präauer zitiert „den Doerner“ en passant in ihrem vorletzten Buch, „Johnny
       und Jean“, das mitreißend witzig und gescheit vom Wettstreit zweier
       Kunststudenten erzählte, vom quasigenialischen Künstler-Sein (Jean) und vom
       Künstler-Werden (Johnny) durch eifersüchtige Beobachtung, bewundernde
       Nachahmung und wachsende Autonomie. Und jetzt? In „Oh Schimmi“, ihrem
       jüngstem Roman, begreift und betreibt die 1979 in Linz geborene Autorin das
       Schreiben noch materialhafter, noch bildnerischer als zuvor.
       
       Die Handlung ist zunächst so Banane, dass sie sich locker in ein bis zwei
       Sätzen zusammenfassen lässt. Männlicher Teenager mit Handicap nach
       Reitunfall wächst allein bei seiner Mutter in einem Weltstadthochhaus auf,
       verguckt sich in die Nagelstudio-Kundin Ninni und lässt nichts unversucht,
       um ihr den Hof zu machen: Sogar ein Affenkostüm leiht der „Schimmi“
       genannte Jimmy sich aus, nachdem „die Ninni“ ihn mit den Worten, er solle
       „sich nicht zum Affen machen“, abserviert hat.
       
       Dieses Affen- und Dschungelthema zieht sich, wie manches andere
       sprachgeborene Motiv, in zahllosen komischen und grotesken Varianten durch
       das radikal aus der Schimmi-Perspektive erzählte Buch. Denn Schimmi ist –
       trotz dysfunktionalem Hintergrund, Kleinwuchs und Größenwahn – auf dem
       besten Weg, aus sich eine Gesamtkunstwerksfigur zu meißeln.
       
       Das fängt schon bei der Sprache an. Schimmis Marotte, möglichst viele Worte
       und Namen mit dem Vokal i zu pimpen, aber auch mit s- und sch-Lauten
       aufzuweichen, führt zu schier unerschöpflichen Neuschöpfungen von
       „Siffilisation“ bis „Swirifsky-Steine“, aber auch eher abstrakter Begriffe
       wie „Kirrelation“ und „Kissalität“. Von dieser Lautverschiebung ins
       Glitzernde führt ein direkter Pfad in Schimmis Ablehnung jeglicher
       „Fitamine“ bei gleichzeitiger Anbetung klebrigsten Zuckerzeugs (zu dem im
       weitesten Sinne auch die supersweete Ninni gehört).
       
       ## Paradiesische Höhenräusche
       
       Eine der schönsten Stellen ist denn auch Schimmis delirierende Beschreibung
       der mütterlichen Küche, in der die Lebensmittel hierarchisch von unten
       gesund nach schädlich oben geschichtet sind und schließlich in
       paradiesische Höhenräusche führen zu „Marshmallows in den Farben von heller
       Kreide, Traubenzucker in Tablettenform, Puderzucker, weißes Pulver“.
       
       Auch die gemeinsame Vergangenheit der Eltern, die sich im
       Rodeo-Showbusiness kennengelernt haben, hat ihre Spur in Schimmis Sprache
       hinterlassen. Vor allem Fremdwörter „ämericahnisiert“ er konsequent: unter
       „sexualistisch“, „aestheticalisch“, „psychologicalisch“,
       „paradoxicalomatisch“ läuft hier gar nichts, und wie jede Wortschöpfung
       setzt Teresa Präauer auch diese Adjektive betonend kursiv. Eine Einladung,
       den Text rhythmisch zu verstehen und als Musik zu rezipieren, was in der
       Prosa sogar fast noch besser klappt als in den ausgewiesen HipHop-Passagen,
       in denen Schimmi die Ladys oder sich selbst besingt.
       
       Denn natürlich steht Schimmi als tierischer Blender in der subversiven
       Tradition schamlos übertreibenden Posings: „Gut gekleidet, eine richtig
       geile Hose aus schwarzer Seide, geschnitten wie eine Jogginghose, dazu die
       Jungle-Fever-Schuhe, ein buntes Hemd, I love Mishima steht darauf in
       schwarzen Lettern, die Sonnenbrille mit Spiegelglas, die fette Kette, die
       dicke Kappe, die Schlagringe und die goldenen Grillz auf den Zähnen, yeah,
       streune ich durch die Straßen meiner Stadt, und niemand erkennt mich.“
       
       ## Kunstvoll verkehrt er die Verhältnisse
       
       Apropos schamlos. Ausgerechnet Sam, also Schäm Schamlos heißt Schimmis
       sozialer, längst von Frau und Sohn getrennter Vater. Was bleibt dem
       hochbegabten und doch armen Schimmi-Würstchen anderes übrig, als ums
       Verrecken kein Opfer sein zu wollen? Kunstvoll verkehrt er die
       Verhältnisse, und wenn die nicht aufpassen oder sich wie Ninni
       handgreiflich zur Wehr setzen, werden sie selbst zu Opfern Schimmis – wie
       die mexikanische Putzfrau „Guadelupe“ oder die angeblich unter seinem Bett
       gefesselte Nagelfeilkraft Maguro.
       
       Doch Teresa Präauer romantisiert Schimmis karnevalistische
       Widerstandspraxis keinesfalls: Als Schimmi gestriegelt und gespornt im Club
       „XXL“ einläuft, schallt ihm – solche Pointen weiß Präauer zielgenau zu
       platzieren – der vernichtende Imperativ „Lichtbildausweis!“ entgegen, bevor
       er übelst vermöbelt wird. Nein, erfolgreich ist Schimmi mit seinem Spreizen
       und Plustern, Prahlen und Protzen eigentlich nie.
       
       Aber geht das überhaupt – 200 Seiten ohne Identifikationsfigur, ohne
       sicheren Realitätsgrund und höhere Moral? Allerdings. Teresa Präauers
       dritter Roman legt zwar noch ein paar psychologische und diskursive Fährten
       (manche, etwa die neoliberalismuskritische, verläppern auch sang- und
       klanglos). Tatsächlich aber bleibt die Autorin dicht an ihrem
       Sprachmaterial und überlässt sich, darin der kalauernden Meisterin Elfriede
       Jelinek ähnlich, vertrauensvoll dem eigenmächtigen Treiben der
       Mehrdeutigkeiten, Klangverwandtschaften und Bedeutungsverschiebungen.
       
       Und es ist verblüffend und höchst unterhaltsam zu lesen, wie plausibel
       dieser Schimmi allein aus der Logik seiner Sprache heraus gerät. Obwohl
       Präauers „Schimmifikation“ von Unterschichtsteens und Nagelstudioqueens ja
       auch eine leicht übergriffige Seite hat: Am Ende ist Schimmi eine souveräne
       Kunstfigur aus eigenem Recht.
       
       9 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eva Behrendt
       
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