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       # taz.de -- Koalitionsvertrag von Rot-Rot-Grün: Gut lesbare Kritik an der SPD
       
       > Der Koalitionsvertrag ist richtungsweisend, ohne ideologisch zu sein. Die
       > drei Parteien müssen Vertrauen gewinnen – untereinander und bei den
       > BerlinerInnen.
       
   IMG Bild: Das Farbenspiel beginnt
       
       Der Start war lasch. Als SPD-Chef Michael Müller, Linke-Vorsitzender Klaus
       Lederer und die grüne Fraktionschefin Ramona Pop am Mittwoch den
       (erfolgreichen) Abschluss der Koalitionsgespräche verkündeten, taten sie
       das mit einer Miene, als stünde vielmehr das Ende der Koalition unmittelbar
       bevor: Mundwinkel, die fast zum Boden reichten, die Gesichter ermattet,
       abgekämpft, dazu verbale Nickligkeiten des scheidenden Kultursenators
       (Müller) gegen den kommenden (Lederer). Von Aufbruchstimmung – oder
       zumindest der Inszenierung einer solchen Stimmung – keine Spur.
       Gemeinsamkeit, gar Vertrautheit, sieht anders aus.
       
       Man mag diese Beobachtung für unerheblich halten oder gar für belanglos.
       Tatsächlich aber ist zentral für den Erfolg von Rot-Rot-Grün, ob die drei
       Parteien einen Weg zu- und miteinander finden, ob sie eine gemeinsame
       Sprache und politische Kultur pflegen. Die Koalitionsverhandlungen wurden
       lange von der Furcht überschattet, genau daran zu scheitern. Und
       verschwunden ist diese Sorge noch lange nicht.
       
       Dabei hat Rot-Rot-Grün nun erst mal leichtes Spiel. Berlin ist eine offene,
       für politische Veränderungen bereite Stadt. Das hat die Politik von Müllers
       Vorgänger Klaus Wowereit gezeigt. Und viele Veränderungen sind schlicht
       unvermeidbar, weil die Vorgängerregierung aus SPD und CDU Berlin politisch
       zum Stillstand gebracht hat. Da braucht es auch keine „Wende“, um zum
       Beispiel die Bürgerämter wieder funktionsfähig zu machen, für mehr
       Sicherheit im Verkehr zu sorgen oder Bruchbuden, die noch Schulen heißen,
       zu sanieren. Man muss es nur tun.
       
       ## Von wegen Volksfront
       
       Der Koalitionsvertrag kommt in weiten Teilen angenehm unideologisch daher:
       Er nennt viele Probleme, Schwierigkeiten oder Herausforderungen und zeigt
       Lösungen auf. „Progressive Reformpolitik“ nennt das Klaus Lederer. Hier
       kommt also keine Volksfrontregierung an die Macht, wie sie
       Ex-CDU-Generalsekretär Kai Wegner kurz vor seinem Rücktritt noch
       herbeireden wollte und die AfD es sich gewünscht hat. Selbst die Industrie-
       und Handelskammer spricht in einer ersten Reaktion von den „richtigen
       Themen“, die SPD, Linke und Grüne gesetzt hätten. Und damit die
       Rechtsausleger im Parlament nicht gänzlich vom Glauben abfallen, dürfen sie
       sich gerne grobrhetorisch an den wenigen rot-rot-grünen Symbolprojekten
       abarbeiten wie der bald autofreien Straße Unter den Linden und dem
       Kiff-Modellversuch.
       
       Dieser Koalitionsvertrag liest sich in guten Teilen auch wie eine
       unverhohlene Kritik an der bisherigen Politik der SPD. Im Bereich von Bauen
       und Mieten etwa wurden vielfach Positionen von Linker und Grünen
       übernommen. Das ist ein Verhandlungserfolg für die beiden
       Juniorpartnerinnen, der in seinem Umfang überrascht, auch wenn die
       Verhandlungen in diesem Bereich sehr harmonisch verliefen. Denn man fragt
       sich unweigerlich: Wenn sich die Sozialdemokraten jetzt so einfach
       überzeugen lassen – warum ging das nicht auch früher? Warum haben uns
       Müller und Wowereit so lange mit dieser CDU gequält?
       
       Das Einlenken der SPD könnte ein Zeichen sein, dass die Sozialdemokraten
       tatsächlich lernfähig sind – eine unabdingbare Voraussetzung dafür, nach
       dem Absturz bei der Wahl auf gut 21 Prozent wieder eine Perspektive zu
       entwickeln. Vielleicht aber sind viele Sozialdemokraten an der Basis von
       dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen gar nicht überzeugt? Vielleicht
       fühlen sie sich in ihrem Stolz verletzt?
       
       Das wird sich spätestens auf dem Parteitag Anfang Dezember zeigen, wenn die
       Vereinbarung zur Abstimmung steht. Eine gekränkte SPD wäre jedenfalls keine
       guten Voraussetzung für fünf Jahre Rot-Rot-Grün, sondern die Grundlage für
       Nickligkeiten größeren Ausmaßes, die der Koalition das Arbeiten unnötig
       schwer machen würden.
       
       ## Was bringen neue Schulden?
       
       Rot-Rot-Grün muss es zu Anfang vor allen schaffen, überzeugend zu wirken,
       souverän und verlässlich. Denn die drei Partner müssen den BerlinerInnen
       beibringen, dass jene die neue Schuldenpolitik des Landes – auch wenn sie
       offiziell anders bezeichnet wird – akzeptieren. Dass es also sinnvoll ist,
       jetzt zu investieren. Dass es sinnvoll ist, finanziell wieder etwas zu
       riskieren. Weil es nicht mehr anders geht.
       
       Dieses Vertrauen ist die Grundlage dafür, in vielen wesentlichen Fragen im
       Verlauf der Legislaturperiode tatsächlich umsteuern zu können. Im Umgang
       mit Migranten und Geflüchteten etwa, beim Klimaschutz, bei der Polizei.
       
       Klaus Lederer hat am Mittwoch auch ein 100-Tage-Programm mit Pep
       angekündigt. Vielleicht liefert es die Aufbruchstimmung gleich mit.
       
       19 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bert Schulz
       
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