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       # taz.de -- Kolumne Mittelalter: Einmal eine neue Gegenwart, bitte!
       
       > Wer darf warum nicht wählen? Was machen wir mit all diesen tausend
       > Identitäten? Und ist heiß duschen etwa schon Populismus?
       
   IMG Bild: Linker Populist bekommt Friedensnobelpreis: Willy Brandt, 1971
       
       Das hier ist nur die Kolumne einer „taz-Lusche“ – wie Besorgte
       Bürgerschutzstaffeln (BSS) [1][mich nennen] –, und Sie müssen sie also
       nicht weiter beachten. Ebenso wenig wie Sie verpflichtet sind, die
       mindestens 8 Millionen Menschen zu beachten, die in den USA leben und
       arbeiten, aber weder Clinton noch Trump wählen konnten; oder die 4.351.000
       volljährigen Erwerbspersonen, die nach freundlichen Angaben des
       Statistischen Bundesamtes 2015 in Deutschland gearbeitet und Steuern
       gezahlt haben, aber nicht Merkel oder Steinmeier – nein, den ja eh nicht! –
       wählen werden dürfen.
       
       „My point is“, wie [2][Walter in „The Big Lebowski“ sagt], dass wir darüber
       sprechen müssen, wie wir die durchweg knappen Wahlergebnisse zugunsten der
       extremen Rechten der letzten Zeit drehen können: Wenn alle dort wählen
       dürften, wo sie leben, dann würde mitnichten – um eine Lieblingslüge der
       BSS vorwegzunehmen – die einheimische Bevölkerung ersetzt; es würde nur die
       unausgesprochene Apartheid beendet.
       
       Dass diese neuen Wahlbürger dann allerdings überhaupt wählen, ist nicht
       ausgemacht. Ich dachte in diesen Tagen von Clintons Niederlage an eine
       Anekdote, die mir eine bolivianische Freundin erzählt hat. Das indigene
       Haus-„Mädchen“, das sie aufgezogen hatte, war ihr erwachsenes Leben lang
       wahlberechtigt gewesen. Aber die erste Abstimmung, an der die inzwischen
       reife Frau teilnahm, war die, bei der Evo Morales antrat: Welche
       Wahlversprechen die vorherigen Kandidaten auch immer im Angebot gehabt
       hatten – für die Frau war ausgeschlossen, dass dabei ihre Interessen
       verhandelt würden.
       
       Es geht also durchaus um Personen – und ich kann nicht so tun, als wüsste
       ich, wie man das Dilemma der Identität auflöst. Ich glaube, dass es genug
       Anfang wäre, wenn der grundsätzlich politisch-moralische Kompass der
       Spitzenkandidaten linkspopulistischer Politik nicht in Zweifel gezogen
       werden kann: Das [3][war bei F. D. Roosevelt so] wie auch bei Willy Brandt
       – um den Bogen des sozialdemokratischen Reformzeitalters zu spannen.
       
       ## Orakeln statt anpacken
       
       Linkspopulistisch: Denn es ist ja schon arg, wie viel derzeit über die
       Krise der liberalen Ordnung orakelt wird, anstatt Wesentliches schlicht
       anzupacken. Also eine Rente, von der man im Alter in Würde und als
       teilnehmender Staatsbürger leben kann, ein Gesundheitssystem, in das alle
       einzahlen, ein Bildungssystem, auf das alle stolz sind, eine Arbeitswelt,
       die nicht von Erniedrigung, Monotonie und Angst beherrscht wird.
       
       Dass dies im Rahmen des Bisherigen nicht zu machen sein wird, wurde mir
       klar, als ich den Facebook-Post eines geschätzten, einst linken
       Journalisten las, der schrieb, in den kommenden Jahren werde es vor allem
       darum gehen, „die liberale Ordnung vor dem Zusammenbruch zu bewahren“.
       
       Wenn sich die liberale Ordnung nicht reformiert, dann wird dieser
       Zusammenbruch nur mit illiberalen Mitteln zu verhindern sein – was dann
       eben nur ein anderes Ende der liberalen Ordnung wäre. Und bitte nicht
       vergessen: Das einzig Schöne an Mittelalter-Rollenspielen ist die heiße
       Dusche danach.
       
       18 Nov 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://xn--lgen-presse-thb.de/tag/ambros-waibel/
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=4Wu598ENenk
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=7nSgMWW-808
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
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