# taz.de -- Kolumne Knapp überm Boulevard: Nur ideologisches Zuckerbrot
> Political Correctness wird den Linken oft zum Vorwurf gemacht. Sie sei
> narzisstisch, moralistisch und lähme den Klassenkampf, also den
> richtigen.
IMG Bild: Klassenkampf! Auf dem Kreuzberger Myfest 2016
Die tröstliche Bezeichnung lautet: Zyklus. Zyklus ist ein besserer Begriff
als Unausweichlichkeit für das Gefühl, das einen angesichts der
gegenwärtigen politischen Entwicklungen beschleicht. Ein Gefühl, das schon
länger in einem schwelte, das aber mit der Trumpisierung unabweislich
geworden ist: das Gefühl, das Politische sei zu so etwas wie einer Epidemie
geworden, die Epidemie des Rechtspopulismus, oder zu einer tektonischen
Verschiebung – auf jeden Fall etwas, dem man nichts entgegensetzen kann.
Etwas, das man nicht gestaltet, beeinflusst, sondern das seinen Gang geht.
Als wären politische Entwicklungen Naturereignisse. Da ist „Zyklus“
deutlich beruhigender.
Zur Beruhigung und zur Abwehr der eigenen apokalyptischen Neigungen dient
das Genre der „Was tun?-Texte“. Ebenso wie die rituellen Selbstgeißelungen
der Linken, die lieber selbst an der Misere schuld sein wollen, als dass
sie einem widerfährt. Lieber hat man versagt. Politisches Flagellantentum
ist immer noch besser als Nichtteilhabe an der Gestaltung des Geschehens.
Ich möchte dazu zwei Anmerkungen beisteuern. Die erste zur emphatischen
Wiederentdeckung des Klassenkampfs. Dieser kehrt zurück wie ein Verdrängtes
– als Symptom. Diese Rückbesinnung auf den Klassenkampf geht heute Hand in
Hand mit einer Denunzierung der Political Correctness. Diese habe die
Oberhand gewonnen, heißt es. Diese sei schuld daran, dass man, dass die
Linke, den Klassenkampf, also den richtigen, aus den Augen verloren habe.
Die Anschuldigungen gegen die Political Correctness reichen vom Vorwurf des
individualisierenden, narzisstischen Moralismus bis hin zur Behauptung, sie
sei das Feigenblatt des Neoliberalismus – als wäre das Zugeständnis von
gesellschaftlichen Freiheiten nur jenes ideologische Zuckerbrot, jene
Ruhigstellung, hinter der die Ausbeutung ungeniert vorangetrieben werden
könne.
## Liberale Kultur ein Elitenprojekt?
Das ist die Lieblingsargumentation der Žižek-Fraktion, die damit Trumps
eigene „Argumentation“ übernimmt: nämlich die, dass die liberale Kultur ein
Elitenprojekt sei, das sich gegen die Arbeiter richtet. Es kommt gerade
jetzt darauf an, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Deshalb muss
man daran festhalten:
Wir haben es heute mit zwei Formen der Ungleichheit zu tun. Mit der „alten“
ökonomischen Ungleichheit, die die weiße Arbeiterklasse und den weißen
Mittelstand betrifft. (Aber natürlich nicht nur diese.)
Und mit der „neuen“ Ungleichheit, der Ungleichheit der pluralisierten
Gesellschaft: Diese ist die Diskriminierung, die Gruppen, Minderheiten
betrifft – ein ebenso realer Ausschluss wie der andere. Diese zwei Arten
von Ungleichheit bestehen nicht nur gleichzeitig, sondern diese
Gleichzeitigkeit ist auch das Problem.
## Die unmögliche Allianz
Die Rechten spielen die eine Ungleichheit gegen die andere aus: die
abgehängte Arbeiterklasse gegen die diskriminierten Minderheiten. Das
funktioniert offensichtlich. Die Linken hingegen stehen vor einem kaum
lösbaren Problem: dem Problem, dass sich die beiden Ungleichheiten nicht
verbinden lassen. Sie sind – mittlerweile – so gegeneinander gerichtet,
dass es das eine, was nottäte, verunmöglicht: die strategische Allianz der
Unterdrückten.
Zweitens möchte in Erinnerung rufen: Identitätspolitik wird nicht nur
aufseiten der Political-Correctness-Fraktion betrieben (mit all ihren
Exzessen). Das, was Trump und Konsorten tun, ist reine Identitätspolitik.
Da liegt das weitere Problem einer Linken, die das Terrain der
Auseinandersetzung wieder auf die soziale Frage verlagern will.
Deren Angebote – von Sozialdemokraten bis zur „Linken“– sind nicht mehr
sexy. Warum? Weil die soziale Frage nicht nur von Zahlen handelte, sondern
ein Identitätsangebot mittransportiert hat. Ein Identitätsangebot, das auf
einem Arbeitsethos beruhte. Dieses Ethos greift heute nicht mehr.
Lohnarbeit kann in Zeiten schwindender Vollbeschäftigung und prekarisierter
Arbeitsverhältnisse nicht mehr ein Ermächtigungsdiskurs sein. Und als
Mittel gegen diese ökonomischen und narzisstischen Kränkungen ist das
nationale Identitätsangebot (mit dem die „Linke“ ja auch immer wieder
liebäugelt) als Ermächtigungsangebot, scheint’s, attraktiver.
23 Nov 2016
## AUTOREN
DIR Isolde Charim
## TAGS
DIR Klassenkampf
DIR Political Correctness
DIR Slavoj Zizek
DIR Identitätspolitik
DIR Schwerpunkt Emmanuel Macron
DIR Populismus
DIR Lesestück Meinung und Analyse
DIR Donald Trump
DIR Rechtspopulismus
DIR Ivanka Trump
DIR USA
DIR Didier Eribon
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Kolumne Knapp überm Boulevard: Macrons Zauberformel
Ist es seine Begeisterungsfähigkeit, sein Charisma? Macron hat beides,
entscheidend ist aber etwas anderes. Es ist, was er beim Einzelnen auslöst.
DIR Kolumne Knapp überm Boulevard: Gefangen im Hier und Jetzt
Geben linke Erzählungen die falschen Zukunftsversprechen? Oder fehlt ihnen
eher die Zukunftsperspektive?
DIR Solidarität unter Unterdrückten: Das schönste Gefühl der Welt
Klassenkampf und Minderheitenschutz gehören zusammen. Der
Gerechtigkeitssinn der Menschen kann sie zusammenführen.
DIR Politologe über Brexit und US-Wahl: „Es kommt alles wieder zurück“
Die Arbeiterklasse ist verunsichert, sagt der britische Politologe Colin
Crouch. Warum Rechte plötzlich den Wertebegriff entdecken.
DIR Debatte Rechtspopulismus: Mehr Zusammenhalt wagen
Als Antwort auf den Trumpismus brauchen wir einen neuen
Gesellschaftsvertrag für Europa. Er soll die Teilhabe für alle
organisieren.
DIR Interview mit der „New York Times“: Wie 1 Trump die Welt sieht
Klimawandel, Wirtschaft, Hillary Clinton und Rassismus – Donald Trump hat
so seine Ansichten und erzählte sie alle der „New York Times“.
DIR Kolumne Knapp überm Boulevard: Österreichische Avantgarde
Die Alpenrepublik ist der rechtspopulistische Vorreiter in Sachen
Wahlanfechtungen. Die Wähler sehen Demokratie nur noch als Elitenprojekt.
DIR Kolumne Knapp überm Boulevard: Der linke Konservatismus
Der Philosoph Slavoj Žižek ärgert sich über den Hillary-Konsens. Den
Soziologen Didier Eribon dürfte er weniger stören. Das liegt an seiner
Haltung.