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       # taz.de -- Neues Album von The Hidden Cameras: Kleine Korrektur der Nationalhymne
       
       > „Was Neues“ ist die neue Platte von The Hidden Cameras eher nicht – aber
       > voller harmoniefreudigem amerikanischen Folk für kühle Tage.
       
   IMG Bild: In fast zu viel Harmonie kann man sich auf dem neuen Album von The Hidden Cameras wiegen
       
       „O Canada! Our home and native land!“, lauten die ersten Worte der
       kanadischen Nationalhymne, die nach Staatsgründung 1867 zunächst in
       französischer, dann auch in englischer Version gedichtet wurde und die man
       erst sehr viel später, 1980, zum offiziellen Lied des Landes auserkor. Dem
       Songwriter Joel Gibb, aufgewachsen im kanadischen Ontario, ist diese Hymne
       von Kindesbeinen an vertraut.
       
       Der heute 39-jährige Musiker hat mit seiner Band The Hidden Cameras ein
       Album veröffentlicht, dem er den Titel „Home On Native Land“ gegeben hat.
       Damit nimmt er eine kleine Korrektur an der Hymne vor und spielt auf die
       Kolonialgeschichte Kanadas an – das „Native Land“ ist hier das
       Herkunftsland anderer. „Eigentlich müsste es ja ,Home On Stolen Land'
       heißen, aber das passte nicht so gut als Albumname“, sagt er.
       
       Mit dem Titel baut Gibb einen kleinen Kniff ein, denn sein Werk – 14
       Loblieder auf die nordamerikanische Folk-Tradition des 20. Jahrhunderts –
       wirft die Frage auf, wie sich das, was man zu Hause („Home“) nennt, von dem
       unterscheidet, was man Herkunftsland oder im Deutschen Heimat nennt. Gibb,
       der in Berlin und Toronto lebt und auch Deutsch spricht, sagt, er habe kein
       Album über „Heimat“ geschrieben. In dem Fall hätte er seine
       Familiengeschichte – er stammt aus einer schottischen Einwandererfamilie –
       und auch das der First-Nations-Völker Kanadas miterzählen müssen.
       
       Joel Gibbs Album dagegen erzählt von Erinnerungen aus der Jugend und
       Kindheit, von dem, was ihn kulturell geprägt hat. Neben elf
       Eigenkompositionen covert er zum Beispiel „Log Driver’s Waltz“
       („Floßfahrer-Walzer“), eines der bekanntesten kanadischen Volkslieder. In
       Gibbs Generation kennt den Song jeder, da er in den Achtzigern in einer
       sehr berühmten Fernsehreihe lief, die ebenfalls die Landesgeschichte zum
       Thema hatte. Es gehe ihm darum, ein Stück Kultur in Erinnerung zu halten,
       „Log Driver’s Waltz“ sei heute bei Jüngeren kaum mehr bekannt. Er
       interpretiert aber auch US-Klassiker wie „The Dark End Of The Street“ (Dan
       Penn/Chips Momann) und das weniger bekannte „Don’t Make Promises“ von Tim
       Hardin neu.
       
       ## Manchmal fast too much
       
       Die Stücke für „Home On Native Land“ hat Gibb innerhalb der vergangenen
       zehn Jahre eingespielt, aufgenommen hat er die meisten mit Don Kerr, dem
       Schlagzeuger von Ron Sexsmith. Sexsmith ist auch an einem Song beteiligt,
       weitere prominente Gäste sind Neil Tennant (Pet Shop Boys), Rufus
       Wainwright und Leslie Feist. So macht Joel Gibb, was er immer gemacht hat,
       seit er The Hidden Cameras 2001 in Toronto gründete: Er schart neue
       Musikerinnen und Musiker um sich und probiert sich in verschiedensten
       Genres aus. In früheren Hidden-Cameras-Tagen entstanden daraus queere
       Performances.
       
       Einen ordentlichen Folk-Einschlag hatte die Band auch vorher schon (als
       „Gay Church Folk Music“ bezeichnete Gibb den Stil der Band einmal), nun
       aber gibt es volle Breitseite Country, Bluegrass und Songwriter. Einflüsse
       von frühem Rock ’n’ Roll, Blues und ein wenig Soul kommen dazu. Gibb und
       seine Hidden Cameras packen die Steel Guitar und das Banjo aus, singen
       Chöre und Ooohs und Aaahs ein („Ode To An Ah“ heißt passenderweise ein
       Song), lassen sich dann und wann von Streichern unterstützen.
       
       „Home On Native Land“ ist ein mild und melancholisch gestimmter Rückblick
       eines Erwachsenen auf das eigene Aufwachsen, für Gibb war das ein Ort
       namens Kincardine in Ontario. Mit einem Coming-of-Age-Moment geht das Album
       los, „The Day I Left Home“ heißt der erste Song, und die ersten Verse
       lauten: „I burned everything I own / left it in a pile smoldering“. Von dem
       Moment des Verlassens an geht die Reise zurück – in die eigene Erzählung
       seiner Vergangenheit.
       
       Voll und erhaben klingen die Songs, schön und sauber eingespielt, -gesungen
       und produziert. Man muss unweigerlich an die Großen des Folk und Rock
       denken, mal an Bob Dylan, mal an Hank Williams, mal die
       Frühsiebziger-Grateful-Dead. „Home On Native Land“ ist ein Album voller
       Harmonien, manchmal ist das fast too much und man wünschte sich
       zwischendrin ein paar dreckigere Blueslicks.
       
       Wer von diesem Album Neues, noch nie Dagewesenes erwartet, der wird nicht
       fündig werden. Wer aber eine sehr gute Hommage an Americana und Canadiana
       hören möchte und harmoniefreudigen amerikanischen Folk in diesen in jeder
       Hinsicht kühlen Tagen schätzt, der sollte sich am Feuer der Hidden Cameras
       wärmen.
       
       15 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
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