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       # taz.de -- Ausstellung im Bucerius Kunst Forum: Venedig war immer das andere
       
       > Seit Jahrhunderten arbeiten Künstler daran mit, Venedig zu einem
       > vermarktbaren Gesamtkunstwerk zu machen. Das hat etwas von
       > Selbstvergottung
       
   IMG Bild: Realismus? Eher nicht. Friedrich Nerlys „Gondoliere vor Stadtansicht“ um 1860
       
       HAMBURG taz | Niemand hatte in über tausend Jahren vermocht, von Land aus
       Kanonen auf den Dogenpalast in Venedig zu richten. Aber 1797 war alles
       vorbei. Nach Napoleons Ultimatum feierte die Stadtrepublik 24 Stunden lang
       ihr eigenes Ende. Dann plünderte eine der bisher am schärfsten überwachten
       Bürgerschaften die Paläste, verbrannte das Tor des ersten jüdischen Ghettos
       und tanzte um den blau-weiß-rot geschmückten Freiheitsbaum. Eines der einst
       mächtigsten und vielleicht kompliziertest verfassten Staatswesen der
       Geschichte versank in die Belanglosigkeit.
       
       Aber wer jahrhundertelang in Kunst und Musik an seiner Selbstvergottung
       gearbeitet hatte, konnte nicht vergessen werden. 1816 kommt der romantische
       Dichter Lord Byron, 1819 der Maler Joseph Mallord William Turner nach
       Venedig, ab 1835 immer wieder der poetische Kunstforscher, Künstler und
       Philosoph John Ruskin. 1851 erscheint in London sein dreibändiges Buch „The
       Stones of Venice“, zugleich spezielle Kunstgeschichte und frühes Plädoyer
       für den Denkmalschutz. Hauptsächlich Engländer ließen aus den
       salzzerfressenen Palästen am Wasser den Mythos des ewig versinkenden,
       zwischen Liebe und Tod schwebenden Traumbildes wachsen. Und diese schöne
       Idee kann sich bis heute behaupten, trotz aller unvorstellbar grässlichen
       touristischen Auswüchse.
       
       Vier Städte sind im zentralen Turmsaal des Hamburger Rathauses als Vorbild
       der Freien und Hansestadt zitiert: Neben Athen und Rom sowie Amsterdam ist
       es selbstverständlich Venedig. Und ein Gebäude weiter am Rathausmarkt, im
       Bucerius Kunst Forum, sind jetzt rund 100 Exponate zu Gast, die Venedig in
       der Kunst zeigen. Zwar auch Kunst aus Venedig, vor allem aber solche über
       Venedig. Und auch ohne viel Vorwissen – aber das hat bei dem Thema ohnehin
       fast jeder – kann nachvollzogen werden, wie die Künstler an der Marke
       Venedig gearbeitet haben. Eine tatsächlich sehr einzigartige und
       kulissenhafte Stadtgestalt wird zum höchst erfolgreichen Branding.
       
       Mit der „Entdeckung“ Amerikas und des Seeweges nach Indien bricht mit dem
       Monopol auf den Orienthandel die traditionelle ökonomische Basis Venedigs
       weg. Der angehäufte Reichtum wird in Kultur und Werbung investiert. Seit
       rund 500 Jahren hat nichts in dieser Stadt irgendeinen anderen Sinn als
       den, Teil des vermarktbaren Gesamtkunstwerks zu sein. Es werden nicht mehr
       die Händler angelockt, sondern Reisende. Ihnen wird so viel Vergnügen wie
       möglich garantiert, am Ende dauerte der Karneval fast acht Monate. Und so
       eine Stadt muss beworben werden.
       
       ## Stark idealisierende Ansichten
       
       Erst sind die Stadtansichten nur der Hintergrund der offiziellen
       Dogenbilder, dann werden dokumentierende Bilder von prunkenden
       Staatszeremonien und die Veduten der Gebäude am Wasser ein eigenes Genre.
       Bilder von Canaletto und Francesco Guardi zeigen im 18. Jahrhundert die
       Pracht und die Schönheit der Lagunenstadt, sie werden nach ganz Europa
       exportiert.
       
       Doch sie sind bei allem scheinbaren Realismus stark idealisiert, zeigen
       präzise Ansichten von fiktiven Standpunkten aus. Im 19. Jahrhundert wird
       Venedig für die europäischen Künstler immer interessanter, sie malen das
       besondere Licht, die Spiegelungen der Architektur im Wasser und die eigenen
       Visionen einer so kaum gewesenen Glorie. Und dann wurde 1895 mit der
       Erfindung der ersten Kunst-Biennale der Welt auch noch der Anschluss der
       überzeitlich gewordenen Stadt an die globalisierte Moderne geschafft –
       jedenfalls wenn man nicht auch das nur als Entertainment betrachtet.
       
       Venedig war immer das andere: Straßen aus Wasser und eine mit Orientalismen
       pralle Architektur außerhalb der klassischen Normen. Aber dort gab es auch
       eine relativ weitgehende Freiheit des Lebens und Denkens, jedenfalls
       solange die politische Macht der wenigen in kompliziert organisiertem
       Gleichgewicht herrschenden Familien nicht angetastet wurde. So zeigt die
       Ausstellung nicht nur Gebäude und Lichtreflexe, sondern auch das pralle
       Leben bis hin zur Karikatur. Besonders überraschend vielleicht ein großes
       Bild von Glücksspielern um 1752 vom Kassler Klassizisten Johann Heinrich
       Tischbein dem Älteren.
       
       ## Ein an Bilderflut ertrinkender Sehnsuchtsort
       
       Auch frühe Fotografien wie John Ruskins Architekturdokumentationen werden
       präsentiert und Großfotos der heutigen Stars: Bei Thomas Struth
       verschwinden die Besucher in der Kirche San Zacceria fast in der jeden
       Zentimeter füllenden Ausmalung und werden selbst zu einer Inszenierung von
       Farbbezügen. Candida Höfers Foto des nach Bränden zum zweiten Mal
       wiederaufgebauten Opernhauses „Teatro La Fenice“ zeigt mit leerer, weiß
       strahlender Bühne: Alles ist hier möglich und alles ist immer theatralisch.
       Bei einem immer wieder gerne abgebildeten Baudetail veränderte sich sogar
       der Name: Aus dem praktischen Verbindungsgang zwischen Dogenpalast und
       Staatsgefängnis wurde romantisch ganz offiziell die Seufzerbrücke.
       
       Es ist eine Ausstellung zum Schwelgen in Bildern und Erinnerungen. Und
       doch: Über Venedig ist schon alles gesagt – hat schon Goethe gesagt.
       Tatsächlich versagt hier die übliche Taktik des Bucerius Kunst Forums, über
       Populäres und Bekanntes stets neue Filter der Wahrnehmung zu legen. Das
       Branding Venedigs ist zu stark. Zwar ist gut nachzuvollziehen, wie
       systematisch dieses Image aufgebaut wurde, aber als flirrender Schatten
       seiner selbst ist es so wenig wirklich zu fassen, wie der schwindende Klang
       eines fernen Adagiettos.
       
       So bleibt inmitten des zentralen Bilderpantheons, zwischen venezianischen
       Visionen, zwischen Turners wunderbar ätherischen Aquarellen und kaum
       weniger vagen Ölbildern oder Monets leuchtenden Lichtern der respektlose
       Kommentar von Kippenbergers „Sozialkistentransporter“, einer bunt
       favelahaft zusammengezimmerten Sperrholzgondel, doch ein seltsamer
       Fremdkörper in dieser virtuellen Reise an einen unter einer unendlichen
       Bilderflut ertrinkenden Sehnsuchtsort.
       
       15 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hajo Schiff
       
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