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       # taz.de -- Die Wahrheit: Jedem Anfang wohnt eine Gurke inne
       
       > Die Wahrheit wird 25! Greatest Hit überhaupt: die wirklich wahrhaftige
       > Festrede zum silbernen Jubiläum der schönsten Seite der Welt.
       
       Mit einer fulminanten Festrede hat Wahrheit-Autor und taz-Redakteur Andreas
       Rüttenauer am Freitagabend auf der Gala zum 25. Geburtstag der Wahrheit im
       Berliner „Heimathafen Neukölln“ den für jedes Fest dringend notwendigen
       Part des Jubelvortrags übernommen. Wir dokumentieren die von
       nordkoreanischen Klatschmärschen immer wieder unterbrochene Rede an dieser
       Stelle.
       
       Am Anfang sei die Gurke. Beginnen wir also mit der Gurke, besser; mit dem
       Gurkensalat. „Gelbroth und Grün macht das Gelbe, Grün und Violblau das
       Blaue! So wird aus Gurkensalat wirklich der Essig erzeugt!“ Wer von uns
       kennt es nicht, dieses bitterböse Distichon, das Johann Wolfgang von Goethe
       im Jahr 1796 an seinen Dichterkollegen Friedrich Schiller geschickt hat. Es
       ging um die Farbenlehre des Mathematikers und Physikers Christian Ernst
       Wünsch, der es gewagt hatte, zu behaupten, dass durch die Mischung von
       Gelb, Rot und Grün alle Farben erzeugt werden können. Für Goethe war das
       Unsinn. Er arbeitete gerade an seiner eigenen Farbenlehre und war sich
       sicher, dass die Wahrheit ganz woanders liegt. Womit wir beim Thema wären:
       der Wahrheit.
       
       Goethe ist tot. Schon lange. Die geschilderte Anekdote stammt aus einer
       Zeit, die heute für gewöhnlich als die präfaktische Epoche bezeichnet wird.
       Diese finstere Zeit, in der sich die Menschen mit Ahnungen über ihre
       Unwissenheit hinwegzuhelfen versucht haben, gehört der Vergangenheit an.
       Seit nunmehr 25 Jahren. Wir sind heute zusammengekommen, um genau das zu
       feiern. 25 Jahre Wahrheit.
       
       ## Einfach nur Quatsch
       
       Seit 25 Jahren haben die Menschen Tag für Tag – außer sonntags – in der taz
       die Möglichkeit, sich mit der Wahrheit über all die Gewissheiten, die auf
       den anderen Seiten dieser Zeitung dargestellt werden, hinwegzuhelfen. Was
       wäre die taz, was wäre die Welt nur ohne Wahrheit!
       
       Zur Wahrheit gehört es dabei auch, dass sich die taz zunächst gar nicht
       leichtgetan hat mit der Wahrheit. Der erste Wahrheit-Redakteur der taz, der
       2010 verstorbene Karl Wegmann, hat zum zehnten Jahrestag der Erschaffung
       der Wahrheit von den immer wiederkehrenden Versuchen berichtet, die
       Wahrheit aus der taz zu eliminieren. Für viele war die Wahrheit einfach nur
       Quatsch. Redakteure versuchten ihre Autoren davon abzuhalten, für die Seite
       zu schreiben. Der taz ging es da nicht anders als den meisten Menschen. Der
       Umgang mit der Wahrheit ist eben nicht immer einfach.
       
       ## Wahrheit und Wissenschaft
       
       Es gibt Menschen, die sind felsenfest davon überzeugt, dass man nicht
       glauben kann, was von der Redaktion als Wahrheit präsentiert wird. Also
       bitte, die Wahrheit ist doch keine Glaubensfrage! Oder doch? Kann eine
       Kartoffel Staatspräsident werden? Gibt es in Chemnitz nur zwei Farben –
       Kackbraun und Aschgrau? Hat Bild-Herausgeber Kai Diekmann wirklich einen
       Kurzen? Ist Helene Fischer eine singende Schlaftablette? Gehen deutsche
       Kühe wirklich unter, wenn sie ins Wasser gehen, weil ihnen der
       Schließmuskel fehlt und sie deshalb von hinten volllaufen? Mein Vorschlag:
       Überlassen wir die Beantwortung dieser Frage der Wissenschaftsseite und
       bleiben einfach bei der Wahrheit!
       
       Aber das mit der Wahrheit ist gar nicht so einfach in diesen Tagen. Es gibt
       Leute, die behaupten, die Erde sei gar keine Scheibe. Und solche, die nicht
       wahrhaben wollen, dass ihr Bewusstsein längst durch Chemtrails manipuliert
       worden ist. Da sind Menschen, die meinen, Donald Trump sei zum Präsidenten
       der USA gewählt worden. Es sind oft dieselben, die davon überzeugt sind,
       dass sich Angela Merkel noch einmal um die Kanzlerinnenschaft bewirbt.
       Kreationisten sehen sich von Zweiflern umgeben. Die Wahrheit ist so sehr
       zur Glaubensfrage geworden, dass man sich ernsthaft Sorgen um sie machen
       muss.
       
       Es sollte uns deshalb ernst sein mit der Wahrheit, wie sie auf der
       Wahrheit-Seite verstanden wird. Mindestens so ernst, wie sie denjenigen
       ist, die dagegen klagen, die Satire verbieten wollen oder Satiriker gar
       umbringen. Es gibt viel zu viele Mächtige, Ohnmächtige, Wahnsinnige,
       Fundamentalisten oder Opportunisten, die glauben, der Satire Grenzen setzen
       zu müssen. Nach den Anschlägen auf das französische Satiremagazin Charlie
       Hebdo sind Kommentare erschienen, die den getöteten Satirikern eine
       Mitschuld daran gegeben haben, dass sie umgebracht worden sind. Was mussten
       sie sich auch mit dem Islam beschäftigen, hätte es ein Witz über Marine Le
       Pen nicht auch getan, hieß es da. Diese Art wohlmeinender
       Selbstzensurfantasie ist das Ende der Satire.
       
       ## Selbsternannte Richter
       
       Da ist mir die Wahrheit einfach lieber, und ich lese noch einmal nach – wie
       es sich unter einer Burka lebt zum Beispiel. Christian Bartel hat mal
       ausprobiert, was passiert, wenn man sich in einer von einem namhaften
       paschtunischen Couturier entworfenen Herrenburka durch eine deutsche
       Kleinstadt bewegt. Oder ich hole mir noch einmal das Interview auf den
       Bildschirm, das Michael Bittner in der Rolle von Thilo Jung höchst exklusiv
       mit dem Kalifen des Islamischen Staats Abu Bakr al-Baghdadi geführt hat und
       in dem dieser einen auch für den heutigen Anlass höchst bemerkenswerten
       Satz gesagt hat: „Wer sich der Wahrheit nicht in den Weg stellt, der hat
       auch nichts zu befürchten.“
       
       Ist das vielleicht ein Fall für die Humor-Polizei? Für all diejenigen, die
       wirklich glauben, es gebe eine Grenze des guten Geschmacks, und die diese
       dann natürlich auch gleich selbst ziehen. Oder für all diejenigen, die
       glauben zu wissen, was lustig ist und was nicht. Für diejenigen, die zu
       wissen glauben, was ein schlechter Scherz ist. Für die Wächter der
       Korrektheit. Für all die selbsternannten Tucholsky-Connaisseure, die gern
       sagen, dass Satire alles darf, und – wenn ihnen einmal etwas nicht passt –
       behaupten, dass das ja nun mit Satire nichts zu tun hat. Für all die
       Majestäten, die glauben, dass man jeden beleidigen darf – nur sie selbst
       eben nicht. Und für alle bemitleidenswerten Wesen auf diesem Planeten, die
       sich über ihre selbst verordnete Humorlosigkeit mit dem Satz zu
       hinwegzuretten versuchen: „Also ich weiß nicht, das ist irgendwie nicht
       mein Humor.“ Nein, die Wahrheit braucht solche Richter nicht.
       
       Richter der Wahrheit gibt es derzeit ohnehin zu viele. Sie raten uns, die
       Blase, in der sie uns wähnen, zu verlassen, um zu verstehen, was da draußen
       in der Welt so vor sich geht. In der Welt der Feen, der Teufel, der
       schlecht gelaunten Rentnerinnen, der vorlauten Schüler, der Bademeister,
       der nordic Walkenden und rauchenden Ralfs. Wer die Wahrheit über die Welt
       da draußen erfahren will, braucht wirklich nicht viel mehr als den
       täglichen Touché von ©Tom.
       
       ## Gurke mit Visionen
       
       Das Lieblingswort der Wahrheitsrichter heißt „postfaktisch“. Sie tun so,
       als ginge das Zeitalter der Wahrheit gerade zu Ende. 25 Jahre nach seinem
       Beginn! Die Wahrheit-Redakteure Harriet Wolff und Michael Ringel werden
       zusammen mit ihren Autoren und Kolumnistinnen zu verhindern wissen, dass
       eintritt, was diese notorischen Wahrheitsskeptiker prophezeien. Sie werden
       weiter über das Wetter schreiben, ohne es ein einziges Mal zu erwähnen. Und
       sie werden noch oft die Auszeichnung verleihen, um die sich die Menschen
       hierzulande wohl am wenigsten streiten, die Gurke des Tages.
       
       Denn sie wissen, dass die Gurke die Krone der Schöpfung ist. Wie sagte es
       doch der hierzulande in Vergessenheit geratene französische Schriftsteller
       Alexandre Vialatte so schön: „Der Mensch ist ein träumender Pilz, eine
       Gurke mit Visionen.“ Und so ist auch am Ende die Gurke.
       
       26 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Rüttenauer
       
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