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       # taz.de -- Reform der Spitzensportförderung: Viel Potenzial nach oben
       
       > Das Spitzensportförderungskonzept der DOSB soll die Athleten in den
       > Mittelpunkt stellen. Die aber können darauf kaum Einfluss nehmen.
       
   IMG Bild: LSC Ringer Nick Matuhin (l.) bei den Olympischen Spielen in London 2012
       
       Luckenwalde taz | Seit fast einem Vierteljahrhundert schon kümmert sich der
       57-jährige Heiko Röll um die Ringer in Luckenwalde. Die brandenburgische
       Kleinstadt zählt seit jeher zu den Traditionsstandorten dieser Randsportart
       in Deutschland. Und wie jeden Montagnachmittag trainiert Röll die Gruppe
       der 12- bis 15-Jährigen. Technikübungen stehen heute auf dem Programm.
       Immer wieder bleibt Röll stehen und unterbricht einen der vielen Kämpfe,
       macht etwas vor und gibt Tipps. Doch abseits der Ringermatten ist Röll in
       diesen Wochen wortkarg geworden. Er will jetzt nichts Falsches sagen. Seine
       berufliche Existenz steht auf dem Spiel.
       
       Die geplante Reform der Spitzensportförderung, die der Deutsche Olympische
       Sportbund (DOSB) gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium die letzten zwei
       Jahre erarbeitet hat und die diesen Donnerstag auf der
       Bundespressekonferenz von Minister Thomas de Maizière vorgestellt wurde,
       würde Röll den Job kosten.
       
       Im Kern geht es bei den Veränderungsvorschlägen um
       Zentralisierungsmaßnahmen und die Konzentration auf medaillenträchtige
       Sportarten. Ringen würde nach derzeitigem Stand wohl kaum im geplanten
       dreigliedrigen Förderstufenkonzept dem sogenannten Exzellenzcluster oder
       Potenzialcluster zugerechnet werden, sondern dem Cluster mit wenig oder
       ohne Potenzial. Bei den letzten drei Olympischen Spielen sprang nur eine
       Bronzemedaille heraus. Aus einem Papier, welches dem Deutschen
       Ringerverband vom DOSB bereits vor einigen Wochen vorgelegt wurde, geht
       hervor, dass nun der Luckenwalder Stützpunkt im Freistilringen auf der
       Streichliste steht.
       
       Insgesamt sollen die Olympiastützpunkte von 19 auf 13 und die
       Bundesstützpunkte von 204 auf 170 reduziert werden. Das Reformwerk wird bei
       der DOSB-Mitgliederversammlung am 3. Dezember in Magdeburg diskutiert. De
       Maizière will die Pläne dann dem Bundeskabinett vorlegen.
       
       ## Vielfalt des Sports in Gefahr
       
       In der brandenburgischen Ringerstadt schwankt die Stimmung zwischen Trauer
       und Trotz. Manche schweigen, andere geben sich offensiv und kämpferisch wie
       etwa Andreas Zabel, der wie Röll Trainer in Luckenwalde ist, dessen Job
       aber als Vereinstrainer nicht bedroht ist. Er sagt: „Wir sehen schwarz,
       wenn unser Stützpunkt geschlossen wird, aber wir lassen uns nicht
       unterkriegen. Das ist nicht unsere Art.“ Den Reformplänen kann er gar
       nichts abgewinnen: „Die Entwicklung in der deutschen Spitzensportförderung
       ist besorgniserregend. Randsportarten wie Ringen werden immer weiter
       verdrängt.“
       
       Die Bewahrung der Vielfalt im deutschen Leistungssport ist für die Reformer
       jedoch ein nachrangiges Ziel. „Wir brauchen ein Drittel mehr Medaillen“,
       erklärte Innenminister de Maizière unmittelbar nach den Olympischen Spielen
       in Rio 2016. Er will den Sport wieder zu einem Aushängeschild Deutschlands
       machen.
       
       Auch wenn die Verantwortlichen des deutschen Reformwerks stets beteuern,
       dass bei allen Planungen der Sportler im Mittelpunkt stehen soll, stößt man
       bei den Betroffenen vielfach auf Skepsis. Das war auch auf der sechsten
       Sportkonferenz des Deutschlandfunks vergangene Woche in Köln zu spüren.
       
       Die paralympische Sportschützin Manuela Schmermund klagte dort: „Es geht um
       den Sportler, aber ohne ihn zu fragen, was er will. Während der Olympischen
       Spiele gab es so viele Umfragen zu teilweise belanglosen Themen. Warum
       macht man dann keine Umfrage zu diesen Reformvorschlägen?“
       
       ## PotAS verbreitet Angst
       
       Selbst der Fechter Maximilian Hartung, der als Athletenvertreter der
       Athletikkommission an den Reformverhandlungen teilnahm, bedauerte in Köln
       die mangelhaften Möglichkeiten der Einflussnahme: „Wir waren zwar bei den
       Verhandlungen und hätten auch Anträge stellen können. Doch es zeigte sich,
       dass wir als ehrenamtliche Vertreter damit überfordert sind. Zu dem
       Zeitpunkt, wo ich in die Verhandlungen einstieg, war das Ganze schon so
       komplex, dass ich vor meinen Wettkämpfen bei den Olympischen Spielen kaum
       die Möglichkeit hatte, mich da einzuarbeiten.“
       
       Aber nicht nur in dieser Hinsicht wirkt die geplante Reform unausgereift.
       Insbesondere das neue Berechnungsmodell „PotAS“ (Potenzialanalysesystem),
       mit dem über eine Computersoftware die Zukunftschancen der Athleten und
       deren Disziplinen anhand von 20 Attributen mit 59 Unterattributen taxiert
       werden sollen, hat einige Verunsicherung bei den Athleten ausgelöst. Dabei
       hat der DOSB gerade mit der größeren Transparenz des neuen Systems
       geworben. „Was kann ich beim Betrachten der Attribute beeinflussen?“, fragt
       etwa die deutsche Leichtathletin Fabienne Kohlmann. Durch PotAS soll
       festgelegt werden, welcher der drei Förderstufen die jeweilige Sportart
       zugeordnet werden soll.
       
       PotAS, das Herzstück der Spitzensportreform, ruft derzeit unter
       Deutschlands Sportlern vornehmlich Abwehrreflexe hervor. Manuela Schwermund
       brachte dies in Köln ganz gut auf den Punkt: „Wenn es im Sport das Unwort
       des Jahres gäbe – PotAS hätte ganz gute Chancen.“
       
       Auch der Boxerin Nadine Apetz, immerhin WM-Bronzemedaillengewinnerin im
       Weltergewicht, fällt es schwer, die Vorteile des neuen Konzepts zu sehen.
       Sie trainiert am Olympiastützpunkt in Köln, der ebenfalls geschlossen
       werden soll und nach Münster verlegt würde. Ein großes Problem für die
       30-jährige Boxerin: „Ich promoviere neben meinem Sport an der Uni Köln“,
       erklärt sie. Im Falle einer Umsetzung der Reform wäre beides zusammen nur
       noch schwer möglich für die junge Sportlerin. „Es hängt unheimlich viel
       daran, und ich müsste mich dann für die Promotion entscheiden.“ Was für
       eine Verlegung des Stützpunkts nach Münster spricht, ist unklar. Im letzten
       Jahr brachte der Standort Köln zwei Goldmedaillen und zwei
       Silbermedaillengewinner hervor. Münster dagegen konnte nicht eine
       Finalteilnahme vorweisen.
       
       Hörmann unter Druck 
       
       Am Donnerstag in Berlin versuchte DOSB-Chef Alfons Hörmann indes die
       Kritiker zu beruhigen. Die nun überarbeitete Fassung beinhaltet einen
       Zusatz, der den Sportarten, die nur die unterste Förderstufe erreichen,
       immerhin die Möglichkeit einer Unterstützung in Aussicht stellt: „Sofern
       ein Verband dadurch tatsächlich in seiner Existenz gefährdet wird, ist
       einzelfallbezogen über eine ‚Basisförderung‘ zu entscheiden.“ Doch diese
       wird dann deutlich unter dem Förderbetrag des zweiten Clusters liegen.
       Zudem sicherte die Vorsitzende der Sportministerkonferenz Christina
       Kampmann auch künftig die finanzielle Unterstützung der Länder im
       Nachwuchsleistungssport zu.
       
       Hörmann versuchte auch dem Eindruck zu begegnen, das
       Spitzensportförderkonzept käme bei den Athleten nicht gut an. Er verwies
       darauf, dass die Olympiamannschaft in einem Positionspapier eine
       95-prozentige Zustimmung zur Reform signalisiert habe. Und er erklärte:
       „Wir haben etwa 100 Athleten miteinbezogen, darunter waren auch zwölf
       Topathleten.“ Als jedoch nach Namen gefragt wurde, wich Hörmann aus. Er
       könne sie zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht nennen. Es bleibt so einiges
       im Dunkeln – selbst die Fürsprecher dieser Reform.
       
       29 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Annika Schmidt
       
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