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       # taz.de -- Die Wahrheit: Bei Feinkost Gerber
       
       > In einem kleinen Laden, zwischen Schinken und Auflauf, kommt es zu einer
       > höchst geschlechtlichen Begegnung der besonderen Art.
       
   IMG Bild: Neuerdings flennen sich die Jammerlappen dieser Welt in tränenfeuchten Newslettern aus
       
       Hans Gerber hatte Schuhgröße 46, trug aber immer Socken in 38, weil er
       glaubte, ihm bliebe dadurch das Blut besser im Kopf. In den Füßen werde es
       eh nicht gebraucht. Seine Freunde meinten jedoch, dass diese Marotte den
       gegenteiligen Effekt habe.
       
       An diesem Tag spürte Hans aber ganz deutlich, wie die selbst auferlegten
       Trombosesocken seinen Kreislauf in Schwung brachten. Er fühlte sich stark,
       mental zu Höchstleistungen fähig und körperlich in der Lage, am Rande der
       Belastungsgrenze zu operieren. Hans holte ein Glas schwarze Oliven aus dem
       Regal und tippte 3,98 Euro in die Kasse. „So, Madame Fröhlich, was darf’s
       denn noch sein?“, flötete er mit seiner Fistelstimme.
       
       „Drei Pfund Kadaverauflauf, bitte!“, quiekte Frau Fröhlich aus vollem Hals.
       Sie hatte ein bezauberndes Äußeres, aber eine Stimme wie ein Megafon auf
       Koks. Hans war ihr verfallen, schon vom ersten Tag an, als sie sein
       Feinkostgeschäft betreten hatte. Sie besaß diesen besonderen Charme, wie
       ihn nur reife Frauen ausstrahlten. Verstohlen blickte Hans auf ihre
       Schenkel. „Hach, ja . . .“, entfleuchte es ihm, „wie viel Schinken wollten
       Sie gleich noch mal?“
       
       Frau Fröhlich setzte zu ohrenbetäubendem Protest an. Sie holte so tief
       Luft, dass im Raum sofort ein Unterdruck entstand. Mehrere dicke
       Hausfliegen, die gerade noch glücklich über dem Kadaverauflauf ihre Runden
       drehten, verschwanden in Frau Fröhlichs Schlund.
       
       „Halt, nein, ich meine Auflauf, wie viel wollen sie vom Auflauf?“, legte
       Hans hastig nach, und Frau Fröhlich hielt inne – einerseits, weil Hans sie
       immer milde stimmen konnte, wenn sie sich zu sehr erregte, und
       andererseits, weil die eben verschluckten Fliegen ein ungewohnt würziges
       Aroma hatten.
       
       „Sagen Sie mal“, setzte sie an, „mit was füttern Sie eigentlich Ihre
       Feinkostfliegen?“ – „Ach, nichts Besonderes“, entgegnete Hans,
       „Fleischabfälle, Tellofix, ein bisschen Scheiße.“
       
       Frau Fröhlich taten diese Unterhaltungen gut, sie spürte, dass da womöglich
       ein bisschen mehr war als die typische Kundenbeziehung im Einzelhandel. Ob
       Hans wohl genauso empfand? Der spürte derweil, dass seine acht Nummern zu
       kleinen Socken enorm zu kribbeln anfingen. Das war normalerweise ein
       untrügliches Zeichen für Nervosität, doch in diesem Fall vermutete Hans
       etwas ganz anderes dahinter.
       
       „Ameisen!“, kreischte er. „Sie fressen mich!“ Panisch ruderte er mit den
       Armen. Frau Fröhlich verschwendete keinen Gedanken an ihre eigene
       Sicherheit und hechtete hinter den Tresen. Sie riss Hans zu Boden und
       entrollte ihre Zunge. Damit umschlang sie seine Beine wie einen Baumstamm
       und streifte die Ameisen herunter und hinein in ihren Mund. Mit eingesogen
       wurden Hose, Unterhose und Hans’ Socken.
       
       „Aaarrrgh, dieser Geschmack!“, johlte Frau Fröhlich beinahe ekstatisch.
       Hans wusste gar nicht, wie ihm geschah. Der plötzliche Druckabfall in
       seinen Füßen ließ das Blut nach unten sacken und machte ihn willenlos.
       Feinkost Gerber musste für mehrere Tage schließen.
       
       29 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Gückel
       
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