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       # taz.de -- Polit-Theater in der Schwankhalle: Tanz die Rosa Luxemburg!
       
       > Der Heiligen der Arbeiterbewegung spürt in der Schwankhalle ein Ensemble
       > mit den Mitteln des Tanztheaters nach: „Rosa Luxemburg“
       
   IMG Bild: Agitierende Ikone: Rosa Luxemburg
       
       Ein Karnevalsverein, die Schwulenorganisation Luxemburgs, Bühnenfigur eines
       Comedians? Als Theatermacher Michael Rettig bei Bremer Studenten
       recherchierte, was sie über Rosa Luxemburg denken, musste er feststellen,
       dass die Streiterin für Frauenemanzipation und Leitfigur der
       Arbeiterbewegung nicht einmal dem Namen nach bekannt ist.
       
       Deswegen bringt er heute, 19 Uhr, mit Mitteln des Tanzes, Schauspiels und
       der Musik ein forsches Stück Nachhilfetheater auf die Bühne der
       Schwankhalle. Die schlicht „Rosa Luxemburg“ betitelte Uraufführung soll für
       die politische Revolutionärin inflammieren und anhand chronologischen
       Nacherzählens der Biografie auch Grundlagen des praktischen Marxismus
       anreißen. Den formulierte Luxemburg bereits 1898 in der Schrift
       „Sozialreform oder Revolution?“ mit aufrührerischer Deutlichkeit.
       
       Die Hauptrolle seines Stücks hat Rettig gedoppelt. Die liebenden,
       empathischen, energiebündelig kämpferischen Facetten stellt Tänzerin Magali
       Sander-Fett dar, die intellektuelle Seite verkörpert Schauspielerin
       Franziska Mencz mit reichlich Zitaten auf den Lippen, dazu erforscht ein
       Musikantenquartett „Die Internationale“ als postkommunistische
       Neukomposition. Mit Rettig am Klavier. „Zum Glück muss ich nicht von dieser
       Kunstproduktion leben“, sagt der 60-Jährige, „ich verdiene mein Geld als
       Beamter, habe eine halbe Stelle als Lehrer.“ Der Neustädter unterrichtet
       Deutsch, Kunst und Musik an der Oberschule Kurt-Schumacher-Allee.
       
       Zu großer Kopf, lange Nase, gedrungener Wuchs, hinkend durch Hüftschaden –
       „all das führte dazu, dass Rosa Luxemburg sich als Frau ablehnte. Ihr
       ganzes Kapital waren Bildung und Intelligenz, die gleichzeitig auch einen
       Großteil ihres erotischen Kapitals ausmachten“, so Rettig. „An Liebhabern
       mangelte es nicht.“ Was er nicht unterschlagen will.
       
       Aber vor allem soll eine Profipolitikerin porträtiert werden, die nicht für
       den eigenen Machterhalt ständig Kompromisse eingeht, sondern
       „Überzeugungstäterin war“. Während 1914 fast alle, auch die verbürgerlichte
       Sozialdemokratie, im Nationalismusrausch den 1. Weltkrieg begrüßten, sagte
       die Internationalistin: Nein. Sie sah im Krieg keine patriotische
       Veranstaltung, sondern die Entfesselung des Kapitalismus: „Die Dividenden
       steigen, und die Proletarier fallen.“ Zur Kriegsdienstverweigerung forderte
       die Pazifistin auf.
       
       An einen real scheiternden SED-Sozialismus hat Luxemburg nie gedacht, einen
       demokratisierten Kapitalismus nicht erlebt, die totalitäre Despotie des
       Stalinismus nur erahnt – so dass sie in ultralinker Jungfräulichkeit die
       „Diktatur des Proletariats“ in einer kommunistischen Weltgesellschaft
       ersehnen konnte. Was heute wenig sexy wirkt.
       
       Sind die Anliegen Luxemburgs noch aktuell? „Recht behalten hat sie mit
       ihrem Widerspruch gegenüber Lenin und den russischen Bolschewiki, dass
       Sozialismus ohne Demokratie nicht funktionieren würde, Freiheit immer
       Freiheit des Andersdenkenden sei“, betont Rettig.
       
       Auch legte die promovierte Staatswissenschaftlerin den Finger in die
       sozialen Wunden. „Ihre Aussage, das Herzstück des Kapitalismus sei der
       Kassenschrank, trifft den Nerv unserer Zeit“. Ist sie eine
       Identifikationsfigur? „Ja, weil weder Wut noch Hass, sondern Zorn sie
       trieb“, sagt er, und hofft, sein Abend könne „ein kleiner Beitrag dazu,
       diesen Zorn auf die heutigen Verhältnisse zu fördern“, sein.
       
       Zum Stückfinale feiert Rosa Luxemburg Wiederauferstehung. „Sie ist keine
       Heilige, aber wir brauchen heute mehr Menschen von dieser Sorte, die für
       die soziale Gerechtigkeit brennen“, erklärt Rettig, „deswegen habe ich mir
       erlaubt, Rosa zurückzuholen und ihr eine Rede zu schreiben: ihre Sicht auf
       unsere Gegenwart.“
       
       Die sie sogleich mit ihrer Vergangenheit vergleicht: „Die
       Einkommensungleichheit ist in Deutschland wieder so groß wie zu meiner Zeit
       im wilhelminischen Zeitalter … Es gibt Steueroasen, in denen unvorstellbare
       Summen hinterzogen werden. Das politische Personal: korrupt, zynisch, oder
       zu feige sich mit den wirklich Mächtigen anzulegen. Die europäische
       Sozialdemokratie, ähnlich wie im August 1914, ein Totalausfall. Die Linke
       marginalisiert. Die Rechten im Aufwind.
       
       Die Armen verachtet, die untere Mittelschicht abgehängt. Flexible Menschen,
       bis an die Zähne mit Humankapital bewaffnet und dennoch ohne wirkliche
       Sicherheit. Krieg den Hütten, Friede den Palästen – die Umkehrung von
       Aufklärung und Demokratie, die Umkehrung von Freiheit, Gleichheit,
       Brüderlichkeit.
       
       Die Zerstörung des europäischen Sozialstaates. Das ist das Programm, das
       Sie heute wieder erleben und das ich bereits damals erlebt habe.“ Und nun?
       Da rennt der Zuschauer mit einer ordentlichen Portion Zorn betankt aus dem
       Theater und findet keine Arbeitsgruppe vor, die den Generalstreik
       vorbereitet, oder Barrikaden, auf denen er gleich loskämpfen könnte. Wohin
       mit dem Gerechtigkeitsgrollen und Luxemburgs unerschütterlichem Optimismus?
       „In die Möglichkeit, grundsätzlich nach Alternativen zum Kaputtalismus zu
       fragen“, sagt Rettig.
       
       30 Nov 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
       ## TAGS
       
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