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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: An der schwarzen Donau
       
       > Der ungarische Nationalismus floriert, politische Gegner werden
       > eingeschüchtert. Ultrarechte versammeln sich bei Pop-Events für die ganze
       > Familie.
       
   IMG Bild: Die „Magyar Gárda“ ist eine rechtsextreme Organisation, die sich als Bürgerwehr versteht
       
       Sie haben rasierte Schädel oder Frisuren wie Conan der Barbar, tragen
       T-Shirts mit gotischen Motiven, Patronentaschen und große Totenkopfringe.
       Ihre muskulösen Oberarme zieren aufwendige Tattoos, und die Bierdose ist
       immer griffbereit: Heavy-Metal-Fans erkennt man überall. In diesem Sommer,
       Mitte August, strömen sie in Scharen in eine ungarische Kleinstadt am Ufer
       des Balaton. Der Anlass: ein Open-Air-Konzert im großen Amphitheater.
       Nebenan, in der verglasten Halle, werden die Merchandisingprodukte der Band
       verkauft – und Bier. Alles ist so, wie man es von einem gewöhnlichen
       Heavy-Metal-Event erwarten würde.
       
       Abgesehen von den vielen Familien im Publikum. Und den vielen T-Shirts mit
       seltsam anmutenden Landkarten und sonderbaren Schriftzeichen, die sich bei
       genauerer Betrachtung als Runen entpuppen. Mehr als 800 Menschen sind
       angereist, um die ungarische Rechtsrockband Kárpátia spielen zu sehen. Im
       Bühnenhintergrund kann man das Abbild eines Vogelskeletts erkennen, das an
       einen heraldischen Adler erinnert. In Wahrheit stellt es aber den Turul
       dar, das geflügelte Fabelwesen, das den Magyaren bei der Eroberung der
       Pannonischen Tiefebene den Weg gewiesen haben soll.
       
       Das Konzert beginnt. Kárpátia pflegt in klassischer Besetzung aufzutreten:
       Gitarren, Bass, Schlagzeug. Die Songs sind kurz, jeder Ton knallt. Der
       Bassist und Sänger der Gruppe, János Petrás, der einen stolzen Schnauzer
       unter dem kahlen Schädel zur Schau trägt, bewegt sich auf der Bühne mit dem
       Gehabe eines großen Rockstars. Der eine der beiden Gitarristen schüttelt
       ausdauernd seine Mähne. Das Publikum reißt begeistert die Hände zum
       Teufelsgruß nach oben: eine Faust mit hochgerecktem Zeige- und kleinem
       Finger. Bei Metalkonzerten gilt das als Zeichen allgemeiner Zustimmung. Bis
       hierhin gibt es keine Überraschungen.
       
       Doch dann werden plötzlich, wie bei einem Fußballspiel, Fahnen geschwenkt:
       kleine, zum Teil von Kinderhänden getragene, und riesengroße, die sich
       majestätisch durch die Luft bewegen. Die meisten Fahnen geben dem
       Uneingeweihten Rätsel auf. Es sind nämlich keine normalen Nationalflaggen.
       Einige sehen zwar so ähnlich aus, aber hier sind auf der horizontalen
       rot-weiß-grünen Trikolore in der Mitte zwei Engel zu sehen, die ein Wappen
       tragen. Es ist die Fahne des einstigen Königreichs Ungarn.
       
       ## Nazi-Kollaborateure und Antisemiten
       
       Daneben gibt es noch diverse Variationen von rot-weißen Fahnen, die
       eigentlich bei jedem Ungarn, der sich nicht selbst zum äußersten rechten
       Rand zählt, einen Wutanfall auslösen müssten. Diese Farben spielen nicht
       nur auf die Gründer des Königreichs an, die Herrscherdynastie der Árpáden,
       sondern es sind auch die Farben der Pfeilkreuzler. Diese 1939 gegründete
       nationalsozialistische Partei Ungarns kollaborierte zwischen Oktober 1944
       und März 1945 mit Nazideutschland und trieb den Holocaust voran. Insgesamt
       fielen 556.000 ungarische Jüdinnen und Juden der sogenannten Endlösung zum
       Opfer; die meisten wurden in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
       deportiert oder direkt im Land ermordet.
       
       Die mysteriösesten Flaggen jedoch waren jene feschen blauen mit einem
       gelben Streifen in der Mitte und einer Sonne sowie einer Mondsichel. Erst
       gegen Ende des Konzerts sollte sich ihr Geheimnis lüften. Die Stimmung ist
       freundlich und emphatisch zugleich. Man wird den Eindruck nicht los, immer
       wieder dasselbe martialische, aber dennoch leichtfüßige Lied zu hören,
       obgleich zwischendurch regelmäßig lyrische Gitarrensoli erklingen. Die
       eigentliche Show bestreitet das Publikum, das die Refrains voller Inbrunst
       mitsingt.
       
       Kárpátia ist ein echtes Phänomen. Die Band, die jedes Jahr über 100
       Konzerte gibt, ist äußerst populär. Gegründet wurde sie 2003; eins ihrer
       Alben heißt schlicht „Gerechtigkeit für Ungarn“. Damit wird, wie so oft,
       auf den Friedensvertrag von Trianon angespielt, der am 4. Juni 1920 das
       Ende des Königreichs besiegelte. Ungarn verlor damit zwei Drittel seines
       Territoriums und drei Fünftel seiner Bevölkerung.
       
       Man könnte meinen, dass dieser – gewiss große – Schock inzwischen, fast 100
       Jahre später, überwunden wäre. Doch weit gefehlt. János Petrás erwähnt auf
       der Bühne ein Lied, das seine Mutter ihm früher vorgesungen hat,
       „Großungarn war das Paradies“. Auch der Name der Band erinnert daran, dass
       die Karpaten einmal ungarisch waren. Plötzlich versteht man auch die
       Landkarten auf den T-Shirts – sie zeigen das Ungarn vergangener Tage.
       
       ## Popkonzert als politische Versammlung
       
       Als sich das ganze Amphitheater nach zwei angespielten Akkorden synchron
       erhebt und auf feierliche Weise innehält, glaubt man einen Moment, die Band
       werde nun die Nationalhymne spielen. Doch Fehlanzeige. Was folgt, ist die
       Székler-Hymne aus Siebenbürgen. Diese Region im Herzen der Karpaten gehört
       heute zu Rumänien und war von Ungarn, den ihnen verwandten Széklern,
       Deutschen und Rumänen bewohnt. Die – fiktive – Hymne stammt aus einer
       beliebten Operette, und jeder Ungar kennt sie, egal ob Kárpátia-Fan oder
       nicht. Die erwähnte blau-gelbe Flagge ist die des ehemaligen Széklerlands.
       
       János Petrás erinnert das johlende Publikum daran, dass seine Band in fast
       allen Ländern, zu denen einst Teile des Königreichs Ungarn gehörten,
       Auftrittsverbot hat. Erstaunlich, wie schnell ein Popkonzert zur
       politischen Versammlung mutieren kann. Und dass ein derart konservativer
       Patriotismus es schafft, ein dem äußeren Anschein nach modernes und relativ
       junges Publikum zu mobilisieren – die meisten hier sind zwischen 30 und 40
       Jahre alt.
       
       Mit demselben Nachdruck besingt Petrás den Ungarischen Volksaufstand von
       1956 und lobt den Mut derer, die damals Widerstand gegen die
       „kommunistische Diktatur“ geleistet haben. Später würdigt er auch die
       Führungsfiguren der Pfeilkreuzler, die nach dem Sieg der Roten Armee
       größtenteils als Verräter hingerichtet wurden. Das Publikum bewegt sich im
       Takt der Musik – offenbar ganz im Einklang mit der Tatsache, dass jeder
       dritte Jude, der nach Auschwitz deportiert wurde, ungarischer Staatsbürger
       war. Niemand widerspricht den keineswegs verborgenen, sondern überaus
       expliziten Botschaften von Kárpátia.
       
       Die Liebe zur Heimat, die hier gepflegt wird, beruht auf dem
       Nationalbewusstsein der Pfeilkreuzler: einmal Ungar, immer Ungar. Damit
       einher geht ein ausgeprägter Hass auf alle „Nichtungarn“: auf die
       internationalistischen Kommunisten, etwas versteckter auch auf die Juden
       und ganz allgemein auf alle Fremden, zu denen auch die Liberalen zählen,
       die dem Ungarntum fremde Werte und Waren eingeführt haben.
       
       ## Ortsschilder in altungarischer Runenschrift
       
       Petrás verehrt ein archaisches Ungarn, ein fantastisches Land der Reinen,
       bewohnt von den Nachfahren eines Kriegervolkes, die ihr mit Waffengewalt
       erobertes Land lieben.
       
       In Budapest wird gern erzählt, dass kein Gebäude in der Stadt höher als 96
       Meter sei, um an das Jahr 896 zu erinnern, als die magyarische
       Stammeskonföderation die Pannonische Tiefebene eroberte und sich dort
       niederließ – ein Ereignis, das im Ungarischen „Landnahme“ genannt wird. Die
       überlieferten Werte dieses „auserwählten Volkes“ und seine Symbole sollen
       bewahrt werden: die Turuldenkmäler, die man von Österreich über Rumänien
       bis in die Ukraine überall dort findet, wo es eine ungarische Minderheit
       gibt; die altungarische Runenschrift, die in einigen Regionen bis 1850
       benutzt wurde und gegenwärtig in mehreren rechtsextremen Gemeinden wieder
       auf den Ortsschildern auftaucht; aber auch das Christentum, das mit Stephan
       I. verbunden wird, der im Jahr 1000 das Königreich Ungarn begründete und
       seit seiner Heiligsprechung der Schutzpatron der Ungarn ist. Diese Mischung
       ist sakrosankt für den identitären Rock. Für diese Richtung, die vor allem
       der im Jahr 2000 gegründete einflussreiche Nischensender Pannon Radio
       propagiert, steht nicht nur Kárpátia.
       
       Auch die Band Romantikus Erőszak, was übersetzt „Romantische Gewalt“
       bedeutet, besingt diese spezielle Version der Geschichte. „Ich träume von
       dem Ungarn, wie es jahrhundertelang existiert hat: unabhängig, stark, unter
       ungarischer Herrschaft, selbstverwaltet“, erklärt Frontmann Balázs Sziva,
       der sich den Satz „Es lebe das Vaterland“ auf den Hals hat tätowieren
       lassen.
       
       Der Bezug zur Romantik ist allerdings im Gegensatz zur Gewalt nicht gerade
       offensichtlich. Doch der leidenschaftliche musikalische Nationalismus
       scheint in der Tat von einem Ideal getragen: In modernen Worten ist die
       Rede von der nostalgischen Sehnsucht nach Heldentum und Virilität, einer
       zusammengeschweißten brüderlichen Gemeinschaft, für die man bereit ist, in
       den (ideologischen) Kampf zu ziehen.
       
       Auffallend ist, dass bei all diesen Reden und Gesängen soziale Fragen
       komplett ausgeklammert bleiben. Auch der Begriff Besetzung wird gewöhnlich
       nur im Hinblick auf die Zeit der Sozialistischen Volksrepublik Ungarn
       verwendet und nicht im Zusammenhang mit der Besetzung Ungarns durch
       Nazideutschland oder die langen Zeiträume unter osmanischer und
       habsburgischer Herrschaft.
       
       ## Der Traum von Großungarn
       
       Das Trauma von Trianon lässt sich auch deshalb leicht abrufen, weil es mit
       den zahlreichen Widersprüchen der jüngeren Geschichte verbunden ist. Der
       nationalistische, autokratische „Reichsverweser“ Miklós Horthy, der Ungarn
       zwischen 1920 und 1944 regierte, schloss sich den Achsenmächten an und
       revidierte zusammen mit Hitler und Mussolini in Teilen den Trianon-Vertrag.
       Auf diese Weise konnte er das Territorium, das 1924 Rumänien zugesprochen
       worden war, wieder in das ungarische Staatsgebiet integrieren. Nach dem
       Krieg musste Ungarn diese Gebiete dann wieder abtreten, und in der
       sozialistischen Ära war Trianon kein Thema.
       
       Aber die Großungarnaufkleber, die das Land in den Grenzen von 1867 bis 1918
       zeigen und viele Autoheckscheiben zieren, bedeuten nicht automatisch, dass
       die Autobesitzer eine rechtsextreme Gesinnung hegen. Hinter solchen Gesten
       verbirgt sich manchmal auch die Ablehnung einer anderen Besetzung, nämlich
       der kapitalistischen.
       
       Seit der Westöffnung hat Ungarn enorm gelitten. Die Koalition aus
       Sozialisten und Liberalen, die das Land in den 1990er Jahren regierte,
       erfüllte ohne Murren die Forderungen des IWF und setzte knallharte
       Sparmaßnahmen um. Die Arbeitslosigkeit schoss in die Höhe. Als Ungarn 2004
       der EU beitrat, gehörten 80 Prozent aller großen Unternehmen und Banken
       ausländischen Investoren. Der Privatisierungsprozess war so haarsträubend
       korrupt vonstatten gegangen, dass es nicht verwunderlich ist, wenn viele
       Ungarn sowohl für die linke Elite als auch die Glücksversprechen des freien
       Marktes nur Misstrauen und Verachtung übrig haben.
       
       Dass die Fidesz, die Partei von Ministerpräsident Orbán, an dieselbe
       Symbolik anknüpft wie Kárpátia, [1][hat ebenfalls mit dieser Ablehnung zu
       tun]. Als Orbán 2010 nach acht Jahren erneut an die Macht kam, begnügte er
       sich nicht nur damit, den 4. Juni, also den Jahrestag der Unterzeichnung
       des Trianon-Vertrags, zum „Tag des nationalen Zusammenhalts“ zu erklären.
       Er bot den insgesamt 2,5 Millionen Auslandsungarn in Rumänien, Serbien, der
       Slowakei und der Ukraine sogar an, [2][einen ungarischen Pass beantragen zu
       können]. Orbán verfolgt das Ziel einer Ethnisierung der Staatsangehörigkeit
       und träumt von einer „ungarischen Euroregion“ – was unweigerlich an das
       Pfeilkreuzlermodell von den „Vereinigten Ländern von Ungarn“ erinnert. In
       Orbáns Ideologie vermischt sich die Begeisterung für das Ungarntum mit der
       Ablehnung „ausländischer“ (also europäischer) Gesetze,
       Wirtschaftspatriotismus und Antiliberalismus. Hinzu kommt, dass Orbán,
       dessen politische Karriere einst als Vorsitzender der Jugendorganisation
       der Kommunistischen Partei begann, heute die „Märtyrer“ des Volksaufstands
       von 1956 glühend verehrt.
       
       ## Großes Hunnentreffen in der Puszta
       
       Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass János Petrás von der
       Regierung Orbán ausgezeichnet wurde. Petrás hat auch die Hymne der
       paramilitärischen Miliz Magyar Gárda (Ungarische Garde) komponiert, die
       zwar offiziell verboten ist, aber eigentlich überall toleriert wird. Diese
       Miliz, die 2007 von Gábor Vona, dem Vorsitzenden der rechtsextremen
       Jobbik-Partei, gegründet, 2009 gerichtlich verboten und als Neue Ungarische
       Garde wiedererweckt wurde, hat es sich ihrem Statut zufolge zur Aufgabe
       gemacht, „physisch, spirituell und intellektuell das wehrlose Ungarn zu
       verteidigen“.
       
       Der an Petrás verliehene Orden illustriert bestens, wie nahe sich Fidesz
       und Jobbik stehen – auch wenn es durchaus einige Unterschiede in der
       Definition der ungarischen Identität gibt. „Liebe Nachfahren von Attila“ –
       mit diesen Worten begrüßte Vona nach den Parlamentswahlen 2014, bei denen
       seine Partei 20,5 Prozent der Stimmen erhielt, seine Anhänger. Das
       Kurultáj-Festival, das erstmalig 2010 in Kasachstan stattfand, will
       ebenjene Nachfahren der Hunnen zusammenbringen. Das „Stammestreffen“ – so
       die Übersetzung des Festivalnamens – findet inzwischen jedes Jahr im August
       in der Nähe von Bugac (etwa 120 Kilometer von Budapest entfernt) in der
       Puszta statt. Drei Tage lang kommen dort insgesamt 250.000 Menschen aus
       zwölf Ländern und 27 ethnischen Gruppen zur „größten traditionellen
       Veranstaltung Europas“ zusammen. Der Vizepräsident des ungarischen
       Parlaments ist Schirmherr des Festivals, das ihm zufolge dazu dienen soll,
       die Brüderlichkeit unter den türkisch-hunnischen Nationen zu fördern.
       
       Eine schmale Waldstraße führt zu dem Festivalgelände. In der Nähe des
       Eingangs stehen mehrere Harleys – gut möglich also, dass die
       Gój-Motorosok-Biker mit von der Partie sind. Die Bezeichnung Gój sei nur
       ein Scherz, behauptet der Gründer des Motorradklubs, der gewöhnlich eine
       Großungarnhalskette trägt sowie eine Jacke, auf der die „Heilige Krone“ von
       Stephan I. prangt. Die Gój Motorosok bieten Rundfahrten an, auch eine
       Trianon-Gedenkfahrt haben sie im Programm, und nicht zuletzt dienen sie
       manchen Politikern als Begleiteskorte.
       
       Der Zugang zum Festivalgelände ist gratis. Begrüßt wird man von Attila,
       dessen grimmiges Porträt auf einer riesigen Esplanade aufgestellt wurde.
       Die Luft ist staubig und heiß – im Sommer klettert das Thermometer hier auf
       bis zu 40 Grad. Überall zwischen den halb offenen Jurten mit ihren bunten
       Teppichen und den Ständen, an denen mongolische Souvenirs und traditionelle
       Flitzbogen verkauft werden, laufen mit Kettchen, Armbändern, Talismanen und
       prunkvollen Kopfbedeckungen geschmückte Männer herum. Sie tragen bestickte
       Westen und Kosakenhemden, weite weiße Hosen und lange Ledermäntel. Einige
       haben sogar Rüstungen angelegt, bei anderen bedecken Tierfelle die nackte
       Brust. Abgerundet wird der neonomadische Erobererlook mit langen Haaren,
       Ohrringen, Tattoos und Schnauzbärten. Nur wenige Besucher sind „in Zivil“
       da. Die Frauen tragen folkloristische Röcke oder sind im Bocskai-Stil
       gekleidet. Bocskai hieß der siebenbürgische Fürst, der Anfang des 17.
       Jahrhunderts den ungarischen Aufstand gegen die Habsburger anführte.
       
       ## Das Schnalzen von Peitschen
       
       Ein wiederkehrendes Geräusch, das wie Gewehrfeuer klingt, lässt mich
       regelmäßig zusammenzucken. Es ist das Schnalzen von Peitschen, die eher wie
       Waffen denn wie Instrumente wirken und deren Handhabung schwierig aussieht.
       Vielerorts sind sie in rhythmischen Abständen zu hören. Begleitet werden
       sie von Schlaginstrumenten – vor allem Trommeln.
       
       Die Jurte, vor der ein großes Foto von Atatürk steht, sieht aus, als sei
       sie geschlossen. In einer anderen werden die größten Hunde der Welt (aus
       Irland) gezeigt. Nicht überall erhalten Fremde Einlass. Als ich von einem
       Türsteher gefragt werde, was genau ich suche, und ich erwidere, dass ich
       nur neugierig bin, erhalte ich die schroffe Antwort, dass man mich aus
       ebendiesem Grund nicht hereinlassen werde.
       
       Zahlreiche Polizisten und, abgesehen vom rot-weiß-grünen Saum ihrer Jacken,
       ganz in Schwarz gekleidete Männer drehen auf dem Gelände ihre Runden. Sie
       sehen den Männern der Magyar Gárda verblüffend ähnlich. Und überall wehen
       Fahnen. Es sind Uiguren da, Turkmenen, Tschuwaschen, Türken, Kirgisen und
       Jakuten.
       
       Doch sind die Menschen auch wegen des Festivalprogramms gekommen, das
       zwischen der Hauptbühne und dem „Schlachtfeld“ stattfindet: ein trommelnder
       Schamanenkreis, Dudelsackpfeifer, die ungarische Volksmusik spielen,
       Säbelduelle, Pferdeshows … und natürlich die Vorträge über nomadische
       Zivilisationen in Eurasien.
       
       ## Die Nachfahren von König Attila
       
       Das Kurultáj ist nämlich eine verdichtete Version des Turanismus. Der
       Begriff bezeichnet die Familie der ural-altaischen Sprachen (die
       Turksprachen, Ungarisch, Mongolisch, Finno-Ugrisch und Estnisch) sowie eine
       Ideologie, die eine besondere Beziehung zwischen zentralasiatischen Völkern
       postuliert. In ihrer Blütezeit zwischen den beiden Weltkriegen beförderte
       die Bewegung auch den Hungarismus der Pfeilkreuzler. Heute ist die Jobbik
       die Hauptvertreterin des Turanismus. Zwei ihrer Parteiführer haben ein
       Unternehmen, das traditionalistische Bekleidung und Accessoires vertreibt.
       Die Jobbik ist übrigens auch mit einem Stand am Festival vertreten.
       
       König Attila, dessen Reich sich im 5. Jahrhundert vom Schwarzen Meer bis
       Mitteleuropa erstreckte, wurde angeblich im Kampf gegen die Römer getötet
       (andere Quellen behaupten, er starb in einer seiner vielen
       Hochzeitsnächte). Wer sich als sein Nachfahre betrachtet, grenzt sich damit
       automatisch von der Fidesz ab. Die 2011 von Orbán durchgesetzte neue
       Verfassung basiert auch auf einer kulturalistischen Definition von Nation.
       Doch der Bezugspunkt dieser Nation ist die Stephanskrone, ihre Pfeiler sind
       das Christentum und die Familie.
       
       Die Jobbik („Bewegung für ein besseres Ungarn“), die sich ihrem
       Abgeordneten György Szilágyi zufolge nicht als Partei, sondern als
       „Gemeinschaft“ versteht, beruft sich zwar ebenfalls auf das Christentum.
       Doch ihre Wähler sind ebenso wie die Parteikultur allem Anschein nach
       neuheidnisch und empfänglich für eine naturverbundene, magische
       Spiritualität. Außerdem lehnt die Partei „den Westen“ ab, der Ungarn mit
       dem Vertrag von Trianon verraten habe. Stattdessen orientiert sie sich an
       Asien, wo sie die nationalen Wurzeln Ungarns und seiner „natürlichen“
       Verbündeten wähnt.
       
       Einer der drei Jobbik-Abgeordneten im EU-Parlament propagiert in diesem
       Zusammenhang eine „große turanische Allianz“ zwischen Ungarn und den „roten
       Khanaten“ Zentralasiens. Kein Wunder also, dass Präsident Erdoğan die
       Partei 2014 in die Türkei einlud – anlässlich der Bekanntgabe der
       Ergebnisse nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen. Die Jobbik hat
       vor allem ein Problem mit „Zigeunern“– jedoch nicht mit dem Volk an sich,
       wie die Jobbik-Website versichert. Sinti und Roma seien vielmehr Opfer
       schlechter soziokultureller Verhältnisse und dadurch schädlich für die
       Gemeinschaft. [3][Den Islam hingegen betrachtet der Parteivorsitzende Vona]
       als „letzte Hoffnung der Menschheit in der Finsternis des Globalismus und
       Liberalismus“.
       
       ## Turanische Räuberpistolen
       
       Ein „besseres Ungarn“ erfordere demnach die Rückkehr zu Traditionen. Mehr
       oder weniger stark umgedeutet, werden diese mit der Ablehnung der
       „westlichen“ Moderne verknüpft und mit Mittelalterfantasien genährt. So
       sitzen im Trubel des Kurultáj-Festivals zwei stark tätowierte Ungarn an
       einem Biertisch im Freien und ergehen sich in Lobpreisungen auf die Betyár,
       die romantischen Räuber der ungarischen Folklore: Sie stahlen von den
       Reichen und entführten deren Frauen, die sich von den unwiderstehlichen
       Männern zu Pferde gern verführen ließen. Ehrenwerte Banditen waren sie,
       Gesetzlose aus freiem Willen, schneidig, gerecht und stark. Aus solchem
       Stoff werden turanische Helden gemacht.
       
       Der Jobbik-Slogan „Zu 100 Prozent ungarisch“ impliziert eine Ablehnung des
       Westens und des Liberalismus, vor allem der Unterwerfung unter die EU,
       zugunsten einer Identität, die natürlich ungarisch sein und auf einem
       starken, solidarischen und spirituellen Eurasismus beruhen soll. Auch darin
       spiegelt sich ein romantisches Authentizitäts- und Werteideal wider. „Die
       Zukunft lässt sich nicht aufhalten“, verkündet Jobbik auf ihrer
       Facebook-Seite, die vor allem bei den Jungen beliebt ist – 33 Prozent der
       Studierenden wählen die Jobbik oder sympathisieren mit ihr. Jobbik
       verspricht, staatliche Dienstleistungen wie „die Versorgung mit Trinkwasser
       und den öffentlichen Nahverkehr“ sowie den Begriff des Gemeinguts
       wiederbeleben zu wollen und die „nationalen Ressourcen“ auszubauen – wie
       „die körperliche und mentale Verfassung der Nation, Patriotismus und
       Solidarität“.
       
       Die Mittelalterbegeisterung scheint in diesem Zusammenhang weniger einem
       historisch geleiteten Interesse zu entspringen als einer symbolischen Suche
       nach individueller und kollektiver Selbstverwirklichung. Die Suche nach
       einem Sinn jenseits von Geld und Marktgeschehen, dieses Bedürfnis nach
       einem Platz in einer stabilen und zugleich irgendwie „transzendenten“ Welt
       erklärt vielleicht auch den Erfolg einschlägiger Videospiele, Fantasybücher
       und Themenparks. So wie die Zugehörigkeit zum Christentum einst darauf
       abzielte, alle anderen Zugehörigkeiten in sich aufzunehmen, so bettet der
       Turanismus, wie er sich auf dem Kurultáj-Festival präsentiert, das
       „Vaterland“ in etwas Größeres ein, wo Grenzen weniger wichtig sind als die
       Gemeinschaft.
       
       Diese Patrioten identifizieren sich mit einem supranationalen Volkstum, in
       dem sie sich verlieren wollen. Zu einer solchen Vorstellung gehört die
       Tendenz, die Zukunft in der Vergangenheit zu sehen – und im Namen höherer
       Werte wie Spiritualität, Verteidigung der Schwachen oder Uneigennützigkeit,
       die in der Moderne, insbesondere in der Demokratie und im Kapitalismus,
       verloren gegangen seien. Einige dieser Tendenzen sind nicht auf die
       identitäre, reaktionäre und konservative Rechte beschränkt. Sie können
       durchaus auch Teil der Vorstellungswelt von anderen Gruppen sein: solchen
       auf der Suche nach einer alternativen Lebensweise, Verteidigern einer mehr
       oder weniger bedrohten Subkultur, Verfechtern einer künstlerischen Moral im
       Gegensatz zum Narzissmus oder zum Kapitalismus des Kunstmarkts.
       
       ## Ein Lied für Orbán
       
       In Ungarn geht der Appell zur Besinnung auf die Vergangenheit als Quell
       einer glücklichen Zukunft von mehreren Parteien aus. Und am Ende scheint
       diese Gemeinsamkeit eine größere Rolle zu spielen als alle Unterschiede:
       Als sich Orbán zum 60. Jahrestag des Volksaufstands ein eigenes Lied
       wünschte, um der „Märtyrer von 1956“ zu gedenken, engagierte er den
       Komponisten und Produzenten Desmond Child, der als Sohn ungarischer Eltern
       in den USA aufgewachsen ist.
       
       Früher schrieb dieser Musiker, der inzwischen auch einen ungarischen Pass
       besitzt, Songs für Alice Cooper und die Band Kiss – und weckte damit gewiss
       andere Sehnsüchte als „Hand in Hand auf den Spuren unserer Helden zu
       wandeln“. Überraschend war aber vor allem der Umstand, dass die Fidesz, die
       ein starres heterosexuelles Familienideal vertritt, einen Aktivisten der
       Schwulenbewegung beauftragte, der mit einem Mann verheiratet ist.
       
       Fast zeitgleich mit dem Kurultáj-Festival fand auf der Budapester
       Donauinsel Sziget zum 24. Mal ein anderes großes internationales Festival
       statt, das bereits mehrfach zum besten Pop-Event dieser Art in Europa
       gekürt wurde. Die Eintrittspreise sind aberwitzig hoch. Nur sehr wenige
       Ungarn gehen dorthin.
       
       Aus dem Französischen von Richard Siegert
       
       17 Nov 2016
       
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