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       # taz.de -- Paketzusteller in Berlin: Die Zeit der Packesel
       
       > Vor Weihnachten müssen Paketzusteller noch mehr arbeiten – dabei klappt
       > die Auslieferung schon zu normalen Zeiten kaum. Ein Grund: miese
       > Bezahlung.
       
   IMG Bild: Voller Wagen, wenig Zeit: DHL-Zusteller bei der Arbeit
       
       Es ist bitterkalt an diesem sonnigen Wintermittag in Prenzlauer Berg. Cem
       H., der lieber nur mit seinem Vornamen in der Zeitung stehen will, lehnt in
       der Tür seines Spätis in der Winsstraße 14. Er reibt sich die Oberarme und
       grinst mich an. „Das sind alle Verrückte, schreib das ruhig“, sagt er, als
       ich ihn nach den Paketzustellern frage.
       
       Man könnte sagen, dass Cem so etwas wie der Retter der Pakete ist im
       Winsviertel. Cem kennt jeden zweiten, der seinen Laden betritt, mit
       Vornamen. Denn Cem nimmt sie alle an, die Pakete, nicht nur die von Hermes,
       weil er offizieller Hermes-Shop ist, sondern auch die anderen, die von GLS,
       von DPD – und sogar die von DHL. „Diese Zusteller sind Verrückte“, sagt Cem
       nochmal, beobachtet die Atemwolke vor seinem Mund und fügt dann an: „Es
       sind aber auch arme Schweine.“ Und schon hält der erste gelbe Wagen vor
       seiner Nase.
       
       Wenig später wuchtet ein Mann in rot-gelber Uniform eine Sackkarre voller
       Pakete durch Cems Tür. „Service-Partner von DHL“ steht auf seinem Rücken.
       Er lädt die Pakete ab und hilft Cem sie zu beschriften, die Hausnummer des
       Empfängers kommt auf jede Seite. So kann Cem nachher im Lager die Pakete
       schneller finden. Dort stapeln sich 200 davon, die meisten von Amazon und
       Zalando. Jedes Regal ist einer anderen Straße zugeordnet.
       
       Der Mann von der DHL – oder vielmehr von einem Subunternehmen der DHL –
       wirkt gestresst. Weihnachten steht vor der Tür. Also wird er „bald noch
       gestresster“ sein, mehr will er nicht sagen. Denn: Auch wenn die DHL nach
       wie vor Marktführer ist und fast die Hälfte der 10 Millionen Pakete, die
       täglich in Deutschland unterwegs sind, bewegt – das Unternehmen steht unter
       Druck. Das sieht man auch in Berlin. Und zwar nicht nur in den angeblich
       gefährlichen Vierteln, wo die DHL wegen der Betrügerbanden nicht mehr
       liefert, wie es kürzlich in einigen Medien hieß.
       
       ## Es geht nicht ohne Gewinne
       
       Kaum ein Wirtschaftszweig in den letzten Jahren ist so schnell gewachsen
       wie die Logistik. Das Internet hat es möglich gemacht. Bücher, Kleider,
       Essen, Möbel: Es gibt fast nichts, was man sich nicht mindestens so
       preiswert wie im Laden nach Hause kommen lassen kann.
       
       Diese Entwicklung ist auch an der DHL nicht vorüber gegangen. Mitte der
       Neunziger wurde die Post privatisiert, 2000 ging sie an die Börse. 2015
       überstieg der Gewinn 2,4 Milliarden, 2016 sollen es mehr als 3,7 Milliarden
       werden. Um das zu schaffen, so die Post, die seit 2015 Deutsche Post DHL
       Group heißt, muss sie sparen. Auch am Personal.
       
       Wer derzeit mit offenen Augen durch die Stadt fährt, der sieht sie an jeder
       Ecke stehen: Die gelben Autos der DHL, auf denen nicht nur das Firmenlogo
       prangt, sondern auch der Aufdruck „Service-Partner“. Seit etwa vier Jahren
       arbeitet die DHL mit Subunternehmen zusammen – und hat die Kontrolle über
       deren Arbeitsbedingungen und Lohn abgegeben. Sie sind von Subunternehmer zu
       Subunternehmer verschieden.
       
       Bei Cem wird keiner der Zusteller sprechen wollen. Allein wegen des
       Straßenzugs, für den sie zuständig sind, könnten sie identifiziert werden.
       Sie wissen, dass es bereits zu Entlassungen kam, weil Kollegen ohne
       Zustimmung von oben mit Journalisten sprachen. Im Laufe der Recherche für
       diesen Artikel werden jedoch andere reden, weil ich ihnen verspreche, sie
       nicht zu verorten.
       
       Sie werden erzählen, dass sie weniger als die Hälfte dessen verdienen, was
       ein Angestellter bei der Deutschen Post DHL verdient. Sie werden sagen,
       dass sie bis zu 12 Stunden am Tag schuften, um selbst noch auf diesen
       Schnitt zu kommen. Einige von ihnen berichten, dass sie Überstunden machen,
       die sie nicht bezahlt bekommen. Zwei Fahrer behaupten, dass sie
       scheinselbstständig sind, damit der Chef die Sozialabgaben spart. Und einer
       sagt sogar, dass er kein festes Gehalt hat. Er bekommt pro Paket 50 Cent,
       aber keinen Cent für jedes Paket, das er in die Postfiliale zur Abholung
       bringt.
       
       Daher die Eile, daher der Druck. Daher die vielen Pakete bei Cem im Späti.
       Und daher auch die vielen genervten Berichte von Menschen auf der Suche
       nach Paketen. Viele von ihnen sagen, dass sie nicht einmal mehr immer
       Abholscheine im Briefkasten finden.
       
       „Wie viel kann man als erfahrener Paketzusteller in seinem alten Kiez
       ausliefern?“, frage ich zwei Kilometer Luftlinie entfernt einen Fahrer, der
       in der Zeitung Andi K. heißen und nicht genau verortet werden will. „An
       normalen Tagen schaffe ich 100 pro Schicht“, sagt er. 100 mal 50 Cent, also
       1.000 Euro brutto für einige Kollegen im Monat. Im Vergleich mit diesen hat
       er noch Glück, sagt Andi K., er arbeitet selten mehr als 10 Stunden am Tag
       und kommt auf 1.500 brutto.
       
       Ich kenne Andi K. seit ungefähr vier Jahren. Ich habe mal da gewohnt, wo er
       die Pakete bringt. Ich weiß, dass er am Anfang gern zwei Stufen auf einmal
       nahm, wenn er die Pakete in den vierten Stock schleppte. Ich weiß: Er fand
       den Job sportlich, aber nicht besonders aussichtsreich. Im Sommer 2015, als
       gestreikt wurde bei der Post, da wirkte Andi K. schon weniger beschwingt,
       eher wütend. Er hatte das Gefühl, dass die Post ihre Leute in eine
       Zwei-Klassen-Gesellschaft spaltet.
       
       ## Der einäugige König
       
       Was er meinte: Die Post hatte im Januar 2015 die DHL Delivery gegründet,
       ein Tochterunternehmen, in dem die Fahrer nicht mehr Haustarif bekommen,
       sondern den regionalen Tarif des Arbeitgeberverbandes Spedition und
       Logistik. Von nun an bekamen die einen Paketzusteller einen Stundenlohn
       zwischen 12 und 18 Euro plus viele Boni – und die anderen zwischen 10,04
       und 17,71 Euro und kaum Boni.
       
       Anfangs arbeiteten 5.000 Menschen bei der DHL Delivery, heute sind es
       10.000 von insgesamt 21.5000 Paketzustellern bei der DHL. „Tarifflucht“,
       sagte die Verdi damals – „Lohndumping“ sagt Andi K. bis heute. Das Problem:
       Andi K. regt sich über einen Laden auf, zu dem er wohl nie gehören wird.
       Eigentlich ist er Teil einer dritten Klasse bei der Post. Auch er arbeitet
       für einen Subunternehmer. Er hat das Gefühl, dass es immer weniger Fahrer
       gibt, die direkt bei der DHL oder bei der DHL Delivery angestellt sind.
       
       Und was sagt die DHL zu seiner Annahme? Man arbeite nur mit den
       Service-Partnern zusammen, um „flexibel auf Zeit- und Mengenänderungen
       reagieren zu können“ – also besonders zu Stoßzeiten wie Weihnachten, so
       Anke Blenn von der Pressestelle Berlin. Man habe „die Einhaltung des
       Mindestlohngesetzes in den Vertragsbedingungen aufgenommen“. Im Gegensatz
       zu Wettbewerbern seien bei der DHL nur „weniger als zwei Prozent der
       Paketzustellbezirke in Deutschland an Servicepartner vergeben“. Jan Jurczyk
       von der Verdi Berlin hält dagegen. „Das ist keine aussagekräftige Zahl,
       dazu unterscheiden sich die Zustellbezirke zu sehr.“ Auf erneute Nachfrage
       sagt die DHL, man könne solche betriebsinternen Zahlen nicht nennen.
       
       Aber deshalb meckern? Es gibt schlimmere als die DHL. „Unter Blinden ist
       der Einäugige König“, sagt auch Jan Jurczyk. GLS und DPD zum Beispiel
       arbeiten ausschließlich mit Subunternehmern, bei Hermes sind es vermutlich
       an die 70 Prozent.
       
       Auch Andi K. sagt, dass es ihm anders als vielen, die bei Subunternehmern
       arbeiten, noch ganz gut geht. Und trotzdem wirkt er müde. Gern will er sich
       mal in Ruhe treffen, über die Zukunft reden zum Beispiel, die er sich im
       Moment nicht leisten kann. Aber beim zweiten Mal, als ich ihn auf der
       Straße finde, sagt er, er habe gerade kein Geld für eine Prepaid-Karte und
       deshalb nicht zurück gerufen. Dann verabreden wir uns im Café, doch als ich
       da ankomme lässt er ausrichten, er habe einen Arzttermin vergessen …
       
       Selbst Andi K. hat entweder Angst – oder jede Hoffnung auf Verbesserung
       verloren. Ich kann das verstehen nach all den Jahren – wo immer wieder
       Reportagen über „die neuen Paketsklaven“ erschienen sind –, in denen sich
       nichts geändert hat.
       
       Noch ein paar Tage später, noch ein paar Kilometer weiter, ich habe es
       inzwischen aufgegeben, mit einem Mann von der DHL zu sprechen, den ich beim
       Namen nennen darf. Selbst die DHL will mir keinen vermitteln, aufgrund der
       „vielen Medienwünsche“ seien keine „separaten Termine“ möglich, heißt es.
       Es ist noch immer schneidend kalt, vor einem Zeitschriftenladen stehen
       Bierbänke, ein gelber Wagen hält an, die Fahrer laden aus, ohne Eile. Sie
       sagen, dass sie erst seit Kurzem dabei sind. Dass sie 1.000 Euro brutto
       bekommen, aber für nur sechs Stunden Arbeit am Tag. „Völlig okay“, wie sie
       finden, „wenn man Single ist und jung.“
       
       Ein weiterer Fahrer parkt in zweiter Reihe und holt sich einen Filterkaffee
       im Plastikbecher. Auch er wirkt entspannt. Sein Vater, erzählt er, kam in
       den Achtzigern aus Polen. Sofort hatte er die Festanstellung bei BMW – „von
       solchen Zeiten können wir heute nur träumen“, sagt er. Und trotzdem wirkt
       er nicht unzufrieden. Auch er ist fest angestellt, auch er verdient nur
       wenig mehr als 1.000 brutto monatlich, auch er arbeitet dafür aber weniger
       als acht Stunden am Tag. „Es gibt Schlimmeres“, sagt er. „So ist die Welt.“
       
       ## Bestellungen müssen sein
       
       „So ist die Welt“, räumt auch Cem am nächsten Morgen ein, der Mann mit dem
       Späti, der etwas mehr Wärme in den kalten Paketwahnsinn rund um die
       kaufkräftige Winsstraße in Prenzlauer Berg bringt – alle Nachbarn, mit
       denen ich spreche, sind rundum glücklich mit Cem. Kaum hat er die Rollos
       oben, da stehen schon die ersten in der Tür und fragen nach ihren Paketen.
       Lässige, gut gekleidete Leute, die sich gern von Cem duzen lassen –
       sorglose Großstädter eben, wie sie hier leben.
       
       Nach all den Gesprächen, die ich mit den Fahrern geführt habe, bin auch ich
       müde geworden und frage nur noch: Muss das eigentlich wirklich sein, diese
       ganze Bestellerei?
       
       „Ja, muss es“, sagt eine mit einem Zalando-Paket unterm Arm. „Ich arbeite
       so viel, habe den ganzen Tag so viele Menschen um mich herum.“ Sie will
       nicht auch noch den Feierabend mit vielen Menschen im Klamottenladen
       verbringen.
       
       Und hat sie wenigstens mal mit einem von den Fahrern gesprochen, die ihr
       die Klamotten bringen? „Na ja, bis jetzt noch nicht“, sagt sie mit
       schuldbewusster Mine. Aber sie hat es fest vor. Spätestens an Weihnachten.
       
       6 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Messmer
       
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