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       # taz.de -- Kritik am Onlineversandhandel: „Kontrolle bis zum kleinsten Schritt“
       
       > Wissenschaftlerin Sabrina Apicella über die Besonderheiten der
       > Logistikbranche und die Effekte von Amazon & Co.
       
   IMG Bild: Amazon ist beliebt – und steht immer wieder in der Kritik
       
       taz: Frau Apicella, ist es eine gute Idee, die Weihnachtsgeschenke bequem
       vom Sofa aus zu bestellen und sich liefern zu lassen? 
       
       Sabrina Apicella: Letztendlich muss das natürlich jeder selbst entscheiden.
       Wer sich die Logistikbranche anschaut, sieht aber ganz klar: Der Zugewinn
       an Wahlfreiheit für die KonsumentInnen steht tendenziell dem Verlust von
       Autonomie der Beschäftigten in der Branche gegenüber.
       
       Sie meinen die Zusteller, die unter hohem Effizienzdruck arbeiten müssen? 
       
       Auch, aber nicht nur: Bei Logistik geht es insgesamt darum, die räumliche
       Umschlaggeschwindigkeit von Waren möglichst profitabel zu erhöhen. Ein Weg
       ist die Automatisierung: Denken wir nur an die großen Häfen, an denen
       Container vollautomatisch verladen werden. Die Maschinen laufen, wenn es
       sein muss, 24/7. Die Arbeit, die durch Menschen verrichtet werden muss, ist
       in der Logistik tendenziell ein Problem, weil hier Zeitverluste entstehen
       können. Aber ohne Menschen geht es auch nicht. Deswegen wird bis zum
       kleinsten Arbeitsschritt vermessen, kontrolliert und möglichst vorbestimmt.
       
       Können Sie ein Beispiel nennen? 
       
       So wie wir den Verbleib unserer Pakete verfolgen können, funktioniert es
       auch im Kleinen: In den fabrikartigen Paketzentren von DHL kann jedes
       Päckchen lokalisiert und seine Bewegung nachvollzogen werden. Darüber
       werden auch die Handgriffe von MitarbeiterInnen überwacht oder zumindest
       theoretisch überwachbar. Die Arbeit ist darüber hinaus „digital
       tayloristisch“: aufgeteilt in kleine Schritte mit geringer Verantwortung,
       der Mensch als Handlanger von Maschine und Software.
       
       Welche Folgen hat das für die Beschäftigten? 
       
       Die ArbeiterInnen bestimmen nicht mehr über die Arbeitsprozesse, Software
       und Geräte tun es. Das zieht sich durch den gesamten Prozess des
       Transports, vom ersten bis zum letzten Schritt. Dazu kommt noch, dass die
       Betriebe stark hierarchisch organisiert sind: Zwischen der Frau, die per
       Hand die Adressen ins System eintippt, die der Scanner nicht einlesen
       konnte, und ihrem Manager liegen da buchstäblich Welten.
       
       Sie forschen insbesondere zum Onlineversandhandel – wie hat sich das
       KonsumentInnenverhalten hier verändert? 
       
       Immer mehr Menschen bestellen Dinge des alltäglichen Bedarfs zu sich nach
       Hause, von Lebensmitteln über Elektronik bis hin zu Möbeln. Auch die
       Food-Delivery auf Rädern zählt dazu. Hier geht es ebenfalls um den
       schnellen Umschlag der Ware – vom Lager oder privaten VerkäuferInnen zur
       Kundin.
       
       Der Versandhandel funktioniert also nach den gleichen Prinzipien wie die
       Logistikbranche insgesamt? 
       
       Nicht ganz. In der Möglichkeit, direkt bei Amazon, Otto oder Zalando zu
       bestellen, liegt ein Unterschied zu Transport-Logistikern wie DHL: Beim
       Onlineversandhandel werden der Einkauf auf digitalen Plattformen und der
       Transport miteinander verbunden. Wichtig ist dabei, dass bei jedem Einkauf
       Daten generiert werden, die die Unternehmen dazu nutzen, das Kaufverhalten
       von Kunden vorauszusagen. Die Kundin gibt also für die schnelle Lieferung
       nach Hause ein Stück Privatheit auf, und die Unternehmen treffen auf
       Grundlage ihres vergangenen Konsumverhaltens Aussagen über die Zukunft.
       
       Wie wirkt sich der Onlineversandhandel auf die Transportunternehmen aus? 
       
       Für die KundInnen geht es vor allem um eins: Schnelligkeit. Viele
       Onlineversandhändler geben diesen Druck, dass das Paket schnell bei der
       Kundschaft sein soll, an die Transportunternehmen weiter. Nehmen wir die
       berühmte letzte Meile, die gleichzeitig einen großen Kostenfaktor für die
       Unternehmen darstellt. Hier werden auf Kosten der Arbeitskräfte Zeit und
       Geld gespart: Nicht der Lkw-Fahrer selbst, sondern eine Software bestimmt
       Routen und Pausen, die Bezahlung nach Tarifvertrag wird durch die
       Auslagerung an Subunternehmer umgangen, die Arbeitsverdichtung nimmt zu.
       Und: Anstatt Lagerflächen zu mieten, werden die Pakete bei der Nachbarin
       oder dem Laden an der Ecke abgegeben – das kostet schließlich nichts.
       
       Aktuell gibt es vermehrt Arbeitskämpfe im Logistiksektor und auch bei
       Onlineversandhändlern – woran liegt das? 
       
       Beide Branchen boomen. Mit Streiks und Protesten rücken sich jene
       Beschäftigten selbstbewusst ins Bild, von denen KundInnen nur wenig
       mitbekommen. Seien es Beschäftigte bei Deliveroo in London, ArbeiterInnen
       in Logistik-Kooperativen in Norditalien oder die Streikenden bei Amazon –
       sie haben für Debatten in ihren Betrieben und in der Öffentlichkeit gesorgt
       und erste Erfolge erstritten. Dabei haben sie einen entscheidenden Vorteil.
       Denn gerade die modernen Just-in-time-Versorgungsketten, in denen Waren
       genau zu dem Zeitpunkt hergestellt und geliefert werden, wenn sie
       nachgefragt werden, sind besonders anfällig für Störungen durch Proteste
       und Streiks der Belegschaft. Arbeitskämpfe machen hier also in vielfacher
       Hinsicht einen großen Unterschied.
       
       23 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Malene Gürgen
       
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