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       # taz.de -- Rassismusdebatte in den Sophiensaelen: Unsagbares (im) Theater?
       
       > Die Verwendung des „N-Wortes“ durch ein antirassistisches
       > Künstlerkollektiv führte zur Absetzung eines Stücks. Ein legitimer
       > Platzverweis?
       
   IMG Bild: Die Kolonialherren posieren. Produktionsfoto des abgesetzten Stücks „Leopardenmorde“
       
       Es gibt Worte, die speichern das Unrecht vergangener Tage. Wer sie
       ausspricht, aktualisiert mitunter eine grausame Vergangenheit und kippt den
       Müll der Geschichte in die Gegenwart aus. Sprache kann ein Instrument von
       Gewalt sein und aktiv traumatisieren. Deshalb – und nicht aus Gründen
       formaler Political Correctness – gilt es, ein wie auch immer
       diskriminierendes Vokabular aus dem alltäglichen Wortschatz auszuscheiden.
       
       Kann es in abgesteckten Räumen aber, zumal in der Literatur und im Theater,
       nicht eben geboten sein, einen belasteten Begriff zur Sprache zu bringen,
       um die menschenfeindliche Geisteslandschaft zu kartieren, deren Boden er
       entwachsen ist? Hat die Kunst nicht gerade in Zeiten eines reaktionären
       Rollbacks den gesellschaftlichen Auftrag, an die Schmerzgrenze zu gehen, um
       zu verhindern, dass sich die Geschichte wie die der Ouroboros in den
       Schwanz beißt?
       
       Die Berliner Sophiensæle sind jedenfalls nicht dieser Auffassung. Im Rahmen
       des derzeit laufenden Freischwimmerfestivals, das jungen Theaterschaffenden
       aus Deutschland, Österreich und der Schweiz eine transnationale Plattform
       bietet, kam es zu einem eigentümlichen Fall von Zensur. Das Stück „Die
       Leopardenmorde“, in dem der Regisseur und Autor Timo Krstin die
       faschistische Vita seines Großvaters George Ebrecht vom verstaubten
       Dachboden her ins gleißende Bühnenlicht zerrt, wurde nach der ersten
       Vorstellung abgesagt. Der Grund – so die Verantwortlichen auf ihrer
       Webseite – sei „der künstlerische Umgang mit einem Schriftstück aus den
       1920er Jahren“, das mit „deutlich zu geringer kritischer Distanz“
       vorgetragen werde.
       
       ## Zwei linke Auffassungen
       
       Konkret geht es darum, dass das Künstlerkollektiv K.U.R.S.K., dem Timo
       Krstin angehört, Passagen aus dem autobiografischen Romanversuch des
       besagten Großvaters verliest. In dem kolonialen Selbstzeugnis ist der
       rassistische Ausdruck „Neger“ ein häufig verwendeter Terminus. Nach der
       Aufführung wurde die Gruppe dazu angehalten, auf das N-Wort, das man dem
       afrodeutschen Publikum nicht zumuten wollte, beim nächsten Mal zu
       verzichten.
       
       Die Theatergruppe K.U.R.S.K. hielt das für Verrat am eigenen Konzept und
       wurde von den Sophiensæle zeitweilig aus dem Festival ausgeschlossen. Trotz
       der dezidiert antirassistischen Agenda des Stücks sieht sich die Gruppe nun
       mit dem mindestens impliziten Vorwurf des Rassismus belegt.
       
       Zwei linke Auffassungen vom richtigen Umgang mit rassistischer Sprache
       stehen sich gegenüber. Die Sophiensæle vertreten ein aus der
       Critical-Whiteness-Diskussion hervorgegangenes Dogma, das für
       bedingungslose Diskurshygiene und radikalen Begriffspurismus plädiert:
       Unter allen Umständen muss auf alles verzichtet werden, was irgendwen
       irgendwie verletzen könnte. Die Verwendung rassistischer Termini, so die
       These, reproduziere rassistische Strukturen und koloniale Denkmuster. Und
       zwar selbst dann, wenn die Begriffe allein zur Illustration dieser
       Strukturen verwendet werden.
       
       K.U.R.S.K. steht für die andere Position, wonach man die hässliche
       Vergangenheit zur Sprache bringen muss, um ihre aktuell durch die Welt
       spukenden Gespenster wieder einzufangen. Das waffenfähige Wortmaterial soll
       durch den Kontext entschärft werden. Mehr noch: Das Dechiffrieren der
       Gewaltförmigkeit rassistischer Sprechakte soll den Dammbruch, der eine
       Normalisierung des anstößigen Vokabulars in die Wege leiten könnte, gerade
       verhindern.
       
       ## Kolonialverbrecher in Afrika
       
       Wer sich der – zugegeben – schmerzhaften Performance von K.U.R.S.K.
       aussetzt, sollte indes weder Zweifel an deren antirassistischer Ausrichtung
       hegen noch daran, dass der Ansatz verfängt.
       
       In „Die Leopardenmorde“ werden die Romansplitter des späteren
       SS-Emporkömmlings George Ebrecht, in denen dieser aus seiner Zeit als Sisal
       pflanzender Kolonialverbrecher in Afrika berichtet, mit Reflexionen des
       Regisseurs und Ebrecht-Enkels Krstin verschränkt. Unter anderem erzählt
       der, wie sein Großvater einem nationalsozialistischen Massaker an
       „psychisch Kranken“ aktiv beiwohnte; die Szene wird dabei mit einem
       Ebrecht-Zitat über das „tierische Verhalten“ der Afrikaner kontrastiert.
       
       Das Groteske und Widersprüchliche, das in dieser Spiegelung hervortritt,
       führt den Vorwurf „der zu geringen kritischen Distanz“ ad absurdum. Im
       Gegenteil zeigt das Stück die Verbindungslinien zwischen deutschem
       Kolonialismus und den Rassediskursen der Nazis auf.
       
       K.U.R.S.K. enthüllt aber noch eine weitere Kontinuität: Der Massenmörder
       George Ebrecht fand nach 1945 eine neue politische Heimat in der
       sogenannten Deutschen Friedensunion. Das alte Feindbild eines vermeintlich
       mit den Amerikanern assoziierten „Weltjudentums“ in einen „zeitgemäßen“
       Kontext übersetzend, wetterte er gegen die Atommacht USA als „größte
       Bedrohung für den Weltfrieden“. Unwillkürlich fühlt man sich an Heideggers
       technophoben Schwarzwald-Sprech und dessen antisemitische Implikationen
       erinnert.
       
       ## Der Büttel der USA
       
       Indem Timo Krstin die Biografie seines Großvaters gegen das allzu deutsche
       Diktum „Opa war kein Nazi“ auf der öffentlichen Bühne verhandelt, zeigt er
       auch, wie rassistischer Welteroberungswahn in schuldprojektivem
       Totalpazifismus überwintern konnte. Nicht von ungefähr leugnete Ebrecht
       denn auch – wie die rechtsradikalen Reichsbürger von heute – die
       Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, die nicht mehr sei als der
       Büttel des imperialistischen Blutsaugers USA.
       
       Kann es für ein Haus wie die Sophiensæle, mit einem progressiven
       Selbstverständnis, opportun sein, einem solchen antifaschistischen
       Theaterstück einen Platzverweis zu erteilen?Die Debatte um das N-Wort im
       Zusammenhang mit der künstlerischen Aufarbeitung des deutschen
       Kolonialismus schlug schon bei der Rezeption von Christian Krachts Roman
       „Imperium“ hohe Wellen. Auch dem Autor Kracht wurde ein affirmativer Umgang
       mit seinem Gegenstand unterstellt – ein Vorwurf, der angesichts des
       ironischen Sounds und der unsympathischen Zeichnung des Protagonisten
       Engelhardt absurd erscheint. Kracht ließ seine Protagonisten die
       zeitspezifische Sprache sprechen, anstatt diskurshygienisch die Geschichte
       zu klittern. Auch hier lässt sich behaupten, dass die Rahmung gerade das
       Gegenteil einer Aktualisierung rassistischer Strukturen bewirkt.
       
       Im Gegensatz zu Straßennamen, die wie die Berliner Mohrenstraße unkritisch
       einen diskriminierenden Sprech verwenden und anders auch als jene
       historisch belasteten Kinderbücher, bei denen man stets auf Erklärungen
       durch aufmerksame Eltern angewiesen ist, liefern sowohl „Imperium“ als auch
       „Die Leopardenmorde“ ebenjenen Kontext, der die von Worten ausgehende
       Gewalt zumindest abmildern sollte. Die Möglichkeiten der Kunst wären doch
       auf schlimme Weise eingeschränkt, wenn sich jene grausamen Figuren nicht
       mehr darstellen ließen, die eben auch eine grausame Sprache sprechen.
       
       ## Die weiße Sprecherposition
       
       So sich People of color trotzdem damit unwohl fühlen, muss man deren
       Einwände ernst nehmen. Sowohl die Arbeit von K.U.R.S.K. als auch die
       Argumentation dieses Artikels geschehen ausgehend von einer weißen, also
       privilegierten Sprecherposition. Diese kann sich nicht anmaßen, in der
       Debatte das letzte Wort zu haben. Die Entscheidung der Sophiensæle, dem
       afrodeutschen Publikum das Stück nicht zumuten zu können, wurde jedoch auch
       von einer solchen Position aus getroffen. Auch hier werden People of color
       demgemäß als Objekte eines „weißen Wissens“ behandelt.
       
       Und selbst wenn unter den Beteiligten eine als schwarz markierte Person
       gewesen wäre – könnte diese stellvertretend für alle anderen rassifizierten
       Menschen entscheiden, dass sich die Verwendung des N-Wortes unter allen
       Umständen verbietet? Vielleicht wäre ein anschließendes Publikumsgespräch
       oder womöglich ein konkreter Hinweis im Pressepapier eine gangbare
       Alternative gewesen.
       
       Die Verbannung der „Leopardenmorde“ aus dem Berliner Theater wirkt jedoch
       bevormundend und paternalistisch. Man wird das Gefühl nicht los, dass die
       Bereinigung der Sprache hier als Distinktionstechnik einer Reformelite
       fungiert, die sich selbst einen rassismusfreien Status jenseits der weißen
       Norm attestiert. Der Schokokuss fürs gute Gewissen. Von der
       identitätspolitischen Trutzburg aber geht ein kulturarroganter Klassismus
       aus, der am Ende den Rechten in die Hände spielt.
       
       5 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christoph David Piorkowski
       
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