URI: 
       # taz.de -- Autorin Saphia Azzeddine: Zorn, der auf Privilegien trifft
       
       > Bilqiss ist nicht da, um euch zu beruhigen: eine Begegnung mit der
       > marokkanisch-französischen Autorin Saphia Azzeddine.
       
   IMG Bild: Ihr Debütroman „Zorngebete“ machte sie bekannt: Schriftstellerin Saphia Azzeddine
       
       In Wirklichkeit gibt es keine Happy Ends. Die Realität ist hart und
       erbarmungslos. Auch für die fiktive Bilqiss sieht es nicht besser aus. Sie
       ist die titelgebende Figur in dem neuen Roman der
       marokkanisch-französischen Autorin Saphia Azzeddine, und ihr droht der Tod
       durch Steinigung.
       
       Ihr Vergehen? Sie persönlich hat die Gläubigen ihres Viertels zum Gebet
       gerufen, weil der Muezzin nicht aus dem Schlaf zu wecken und aufs Minarett
       zu holen war. Nach ihrer Verhaftung wurden zudem Make-up, Stöckelschuhe und
       eine Sammlung persischer Gedichte beschlagnahmt sowie eine Menge weiterer
       verbotener Kram, der aus der jungen Witwe eine schwere Sünderin machte.
       
       Immerhin, so geht der Roman weiter, wurde sie nicht sofort hingerichtet.
       Seit einer Woche läuft nun schon ihr Prozess, bei dem sie auf einen Anwalt
       verzichtet. Bilqiss will sich lieber selbst verteidigen. Keineswegs weil
       sie glaubt, ihr Leben dank Logik und durchschlagender Argumente aus dem
       Koran retten zu können – mit ihrem brutalen Ende hat sie sich längst
       abgefunden: „Ich musste um jeden Preis da gewinnen, wo sie jegliches
       moralisches Empfinden verloren hatten. Ich musste um jeden Preis zu ihrer
       Niederlage werden“ – zur Niederlage des Pöbels, der Bärtigen und nicht
       zuletzt des Richters, der ihr Urteil immer wieder nach hinten schiebt. Die
       beiden verbindet ein Geheimnis.
       
       Das Land, in dem die Handlung spielt, hat keinen Namen. An einer Stelle im
       Buch heißt es nur das „Kackland“. „Es ist ein Land, das wegen der Kriege,
       die dort geführt wurden, zu Scheiße geworden ist“, präzisiert Saphia
       Azzeddine, die soeben in Berlin und Hamburg ihren nun dritten ins Deutsche
       übersetzten Roman präsentierte. Das Land, in dem die Steinigung als
       Todesstrafe praktiziert wird, in dem ein radikaler Islam sich breitmacht
       und die Präsenz von US-Soldaten als ungerechtfertigt angesehen wird – ja,
       das könnte der Irak sein oder Afghanistan.
       
       In der französischen Presse liest man, dass Saphia Azzeddine die Idee zu
       „Bilqiss“ nach einer Gruppenvergewaltigung in Delhi 2012 bekam, die das
       Leben des Opfers forderte und zu Massendemonstrationen führte. Azzeddine
       widerspricht: „Ich weiß nicht, ob ich das selbst bin, die manchmal Quatsch
       erzählt, oder doch die Journalisten. Denn eigentlich stelle ich mir nie die
       Frage, woher denn eine Idee kommt, und ich komme mir blöd vor, wenn sie mir
       gestellt wird.“
       
       ## Wut auf das Patriarchat
       
       Vielmehr würde sie die Summe vieler Dinge, die sie sehe oder höre, dazu
       bewegen, sich an den Computer zu setzen. Wenn das Fass voll ist, könnte man
       meinen. Ihren einhellig von der Kritik bejubelten Debütroman „Zorngebete“
       aus dem Jahr 2008, in dem eine junge Frau im Maghreb im Gebet Allah ihre
       Wut auf das Patriarchat anvertraut, soll Azzeddine innerhalb von drei Tagen
       und drei Nächten geschrieben haben. Das Tempo habe sich inzwischen
       verlangsamt, nicht zuletzt weil sie Mutter zweier Kinder geworden ist.
       
       „Doch wenn es hochkommt, wird das Schreiben zu einem physischen Bedürfnis,
       wobei ich selbst das Zähneputzen als Zeitverlust empfinde“, erzählt die
       1979 in Marokko geborene Autorin, die als Neunjährige mit ihrer Familie
       nach Frankreich auswanderte. „Ich mache keinen Sport, ich boxe nicht, ich
       schreibe“ – quasi am Stück. „Ich halte fest, was aus mir kommt.“
       
       Die dritte wichtige Figur des neuen Romans, nach Bilqiss und dem Richter,
       ist ebenfalls Autorin, beziehungsweise eine angehende Journalistin, die
       sich beim New York Magazine beweisen will. Auf der Suche nach einem
       überzeugenden Thema googelt sich Leandra die Finger wund, bis sie auf
       Videos stößt, die von Bilqiss’ Prozessbegleitern mit dem Handy aufgenommen
       wurden.
       
       ## Sharbat Gula
       
       Das Gesicht jener „tragischen Schönheit mit dem durchdringenden Blick“
       kommt ihr bekannt vor. Tatsächlich ziert es eine Kaffeetasse, die ihr vor
       Jahren von ihrer Mutter nach einer Konferenz über häusliche Gewalt
       geschenkt wurde – „Afghan Girl“ Sharbat Gula lässt grüßen. Für Leandras
       Chef lohnt sich der Aufwand für die Story nicht, und so entscheidet sich
       die engagierte Journalistin, auf eigene Kosten über den Fall zu berichten.
       
       Welten trennen beide Figuren. Die arme Waise Bilqiss – immer noch so schön
       wie auf der Tasse – wurde als Kind mit einem um Jahrzehnte älteren Mann
       zwangsverheiratet, die Ehe war eine Dauervergewaltigung. Obgleich es ihr
       verboten ist, liest sie gern und viel, zur Not selbst die
       Gebrauchsanweisung der Kamera des englischen Fotografen, der ihr Gesicht
       berühmt machte.
       
       Wenngleich Leandra sich stets gegen das Machogehabe ihrer männlichen
       Vorgesetzten behaupten muss, so scheint ihr im Vergleich regelrecht die
       Sonne aus dem Arsch: gut umsorgt, verortet sich die junge Frau selbst im
       Stereotyp der verwöhnten American Jewish Princess – und benötigt
       dementsprechend die Hilfe einer Putzfrau, um die Tür ihrer Spülmaschine zu
       öffnen.
       
       ## Gewissensfragen und Vorwürfe
       
       Man kann es ruhig sagen: Egal ob Bilqiss, Leandra oder der radikalisierte
       Richter, auch die whitetrashigen US-Soldaten und die vielen anonymen
       Spanner des menschlichen Elends, ihre Figuren hat Azzeddine allesamt mit
       der Axt gezeichnet. In einer Welt voller Karikaturen – von Trump über
       Reichsbürger bis hin zu IS – wirken ihre Charaktere daher umso
       unheimlicher. Folgerichtig wird Leandra, die Bilqiss in ihrer Zelle
       besuchen darf, von dieser nicht mit offenen Armen empfangen – dem
       Medienspiel, das sie sowieso nicht aus ihrer verzweifelten Lage retten
       kann, will sich Bilqiss nicht preisgeben. Statt dessen hagelt es
       Gewissensfragen und schwere Vorwürfe.
       
       Die Frauen begegnen sich an einem Ort, an dem Differenzierung nichts mehr
       verloren hat, während Bilqiss’ Hass auf die westliche Selbstversessenheit
       von Leandra trifft. Die bitterbösen Wortgefechte der beiden sollen
       Azzeddine zur Verarbeitung ihrer eigenen inneren Widersprüche gedient
       haben: Sowohl die zornige Bilqiss als auch die privilegierte Leandra seien
       jeweils ein Teil ihrer selbst, sagt sie. Für den Leser ergibt sich der
       flaue Eindruck, dass der Raum zur Entfaltung interkultureller Identitäten
       ausgerechnet im Globalisierungszeitalter allmählich abhanden kommt.
       
       ## Zwischen Hebdo und Bataclan
       
       „Wenn ich an die Macht komme, töte ich Sie, Leandra“, sagt Bilqiss. Diese
       Drohung aus der Tiefe ihrer Zelle klingt fast schon prophetisch, wenn man
       bedenkt, dass Azzeddines Roman in Frankreich im April 2015 erschienen ist,
       also im Zeitraum zwischen dem Anschlag auf Charlie Hebdo und dem Massaker
       im Bataclan, als das Land begann, zwischen den Fronten zu zersplittern.
       „Nach den Attentaten wurde ich zu ein paar Fernsehsendungen eingeladen, um
       über den Islam zu sprechen“, erinnert sich Saphia Azzeddine.
       
       „Ich bin da aber keine Expertin. Außerdem hätte ich mit dem, was ich zu
       erzählen habe, alle enttäuscht.“ Die Art des Trauerns war damals bei allen
       wie gleichgeschaltet, bemängelt sie. „Auch ich habe geweint. Aber ich liebe
       mein Land lieber jeden Tag ein wenig, wohldosiert, als es wie auf Befehl
       plötzlich maßlos zu vergöttern und demonstrativ sowohl alle Polizisten und
       alle Araber zu umarmen. Das ist dann nur Show.“
       
       Und klar, Bilqiss sei nicht dazu da, um uns zu beruhigen. „Ich versuche zu
       verstehen, woher der Hass kommt, ich entschuldige ihn nicht – und meine
       Figuren sind nicht da, um geliebt zu werden oder die Menschen mit edlen
       Absichten hinter sich zu versammeln. Sie sollen stören, uns mit Fragen
       überhäufen – und nicht zuletzt zum Lachen bringen“.
       
       Egal, wie sehr die Weltlage zum Heulen ist, Bilqiss jedenfalls lässt kein
       Mitleid zu. Selbst in den verzweifeltsten Situationen überrumpelt sie den
       Leser mit ihrem legeren Humor. Als einer ihrer schlagfertigen Sprüche dem
       Richter beinahe einen Lachanfall vor vollem Gerichtssaal abringt, verhängt
       er ihr 37 Peitschenhiebe. Fast ohnmächtig vor Schmerz durchfährt sie ein
       noch größerer Schreckgedanke: „Was aber, wenn, was ziemlich wahrscheinlich
       war, die beiden Schufte, die mich auspeitschten, nicht zählen könnten?“
       
       14 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Elise Graton
       
       ## TAGS
       
   DIR Irak
   DIR Schwerpunkt Afghanistan
   DIR Schwerpunkt Frankreich
   DIR Kapitalismuskritik
   DIR „Islamischer Staat“ (IS)
   DIR Schwerpunkt Syrien
   DIR Roman
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kolumne Globetrotter: Bartleby ist wieder da
       
       Im Winter sollte man Berlin verlassen. Das ist der Autorin nicht gelungen.
       Stattdessen befindet sie sich im Strudel der Kapitalismuskritik.
       
   DIR Europa gegen den Terrorismus: Vom Primat des Politischen
       
       Über die Existenzvoraussetzungen des alten und des neuen Terrorismus. Oder
       wie sich der Dschihadismus am effektivsten bekämpfen lässt.
       
   DIR Samar Yazbek über Bürgerkrieg in Syrien: „Man arrangiert sich mit dem Tod“
       
       Die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek ging für ihr Buch „Die
       gestohlene Revolution“ in die Hochburgen des Widerstands gegen Assad.
       
   DIR Feministischer und religiöser Roman: Ein Zimmer für zehn Blowjobs
       
       Saphia Azzeddines Roman „Zorngebete“ ist eine schmutzige
       Befreiungsgeschichte aus Marokko. Und nebenbei feministisch.