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       # taz.de -- Krank wegen fehlender Mikronährstoffe: Versteckter Hunger
       
       > Vitamine allein reichen nicht aus im Kampf gegen den versteckten Hunger.
       > Die Ursachen für Mangelernährung werden noch viel zu wenig erforscht.
       
   IMG Bild: Sorghum-Ernte in Äthiopien: Das Spelzgetreide wird immer weniger angebaut
       
       München taz | Über zwei Milliarden Menschen, vor allem Kindern mangelt es
       an lebenswichtigen Mikronährstoffen wie Vitamin A oder Eisen. Der
       sogenannte versteckte Hunger soll für rund 10 Prozent der
       Gesundheitsprobleme weltweit verantwortlich sein. Schließlich verursacht
       Mangelernährung schwere Krankheiten wie zum Beispiel Blindheit. Auch werden
       die Abwehrkräfte gegen Infektionen wie Durchfall, Wurmbefall, Malaria oder
       Tuberkulose geschwächt. Das beeinträchtigt die kognitiven Leistungen von
       Kindern, verringert die Bildungschancen und führt wieder in die Armut – ein
       Teufelskreis.
       
       Diesen zu durchbrechen ist eines der obersten Ziele der
       Weltgesundheitsorganisation (WHO) und anderer
       Entwicklungshilfeorganisationen. Dabei setzt die WHO auf verschiedenste
       Maßnahmen. Bislang wird der „hidden hunger“ jedoch vor allem mittels zu
       kurz greifender Antworten bekämpft, wie etwa einer Anreicherung von
       Nahrungsmitteln. Das deckt eine aktuelle Übersichtsstudie von [1][Mark
       Lawrence], Ernährungswissenschaftler an der australischen Deakin University
       auf.
       
       In 80 Ländern ist eine solche Fortifizierung etwa von Maismehl sogar
       gesetzlich vorgeschrieben. Immer beliebter werden auch Multivitaminpulver,
       die man über das Essen streut oder Fertiglebensmittel, die mit
       Mikronährstoffen versetzt sind. Erst kürzlich forderte die industrienahe
       Organisation [2][„Global Alliance for Improved Nutrition“ (GAIN)] unter
       anderem gemeinsam mit dem Welternährungsprogramm, dass angereicherte
       Lebensmittel ein zentraler Bestandteil in Entwicklungsländern werden
       müssten. Vor allem weil dieses das kosteneffizienteste Mittel gegen
       Mangelernährung sei.
       
       Tatsächlich ist gut belegt, dass Nutrazeutika Mangelernährung lindern.
       Lawrence meint: „Diese Produkte sind in akuten Krisen sicher das Mittel der
       Wahl.“ So wird von Hilfsorganisationen in Flüchtlingslagern etwa
       angereicherte Erdnussbutter-Paste verteilt. Lawrence fordert nun jedoch
       mehr Studien, um die dahinter liegenden Ursachen für den versteckten Hunger
       zu erforschen und dann in politische Aktionen umzusetzen, wie es auch die
       WHO vorsieht. Als mögliche Ansatzpunkte nennt er Verbesserungen in der
       Landwirtschaft, Bildung und die Lösung sozioökonomischer Probleme. Vor
       allem ein abwechslungsreicher Speiseplan gilt als Schlüssel im Kampf gegen
       Mangelernährung.
       
       ## Getreide allein reicht nicht
       
       Doch in der Landwirtschaft haben sich die Voraussetzungen für
       nährstoffreiche Ernten eher verschlechtert, auch weil traditionelle
       Kulturpflanzen wie Hirse oder Sorghum von den Äckern gedrängt wurden. Dafür
       werden immer mehr Kalorien erzeugt, so hat es [3][Rosemary Green],
       Epidemiologin an der London School of Hygiene & Tropical Medicine, kürzlich
       in einer Studie belegt. Vor allem Kleinwüchsigkeit, das so genannte
       „Stunting“, das bei Kindern vorkommt, wenn sie nicht genügend Nahrung
       bekommen, ist eindeutig durch ein Plus an Kalorien aus Reis, Mais, Weizen
       und Soja zurück gegangen. Zumindest das Hungerproblem hat sich also
       gebessert. Doch diese reine Getreidekost ist zu einseitig. In Ost- und dem
       südlichen Afrika essen die Menschen etwa oft nur Maisbrei, morgens,
       mittags, abends.
       
       Die Folge: In einigen Ländern wie Sierra Leone oder auch Indien sollen 80
       Prozent der Kinder von Eisenmangel betroffen sein. Laut der WHO erblinden
       bis zu 500.000 Kinder jährlich wegen eines Vitamin-A-Mangels. Etwa 400.000
       Kinder sterben in der gleichen Zeit wegen Zink-Mangels. Auch Jod- und
       Folsäure-Mangel sind verbreitet – mit dramatischen Folgen.
       
       Diese Leiden mit Vitaminzusätzen lindern zu wollen ist jedoch auch
       gefährlich, warnt Lawrence, es könne zu Überdosierungen bestimmter Stoffe
       kommen. Eine aktuelle Schweizer Studie zeigte etwa, dass Eisenzusätze in
       Lebensmitteln zwar die Gefahr einer Anämie bei kenianischen Kindern bannen,
       jedoch im Darm zu Entzündungsreaktionen führen. Es müsste also von Land zu
       Land, von Region zu Region genau geprüft werden, welche Nährstoffe fehlen
       und welche man in welchen Mengen sinnvoll einsetzt, schreibt Lawrence.
       
       Zudem entstehen bei dieser Praxis Abhängigkeiten von Vitaminherstellern.
       Obendrein geht die Kenntnis der natürlichen Nahrungsquellen sowie die
       Kompetenz, diese zu nutzen, verloren. Immer seltener stehen Maniok, spider
       plant, Kürbisblätter oder Früchte des Affenbrotbaumes auf dem Speiseplan.
       Dabei sind traditionelle Lebensmittel möglicherweise effektiver im Kampf
       gegen den versteckten Hunger, wie kürzlich eine Studie der University of
       Copenhagen zeigte.
       
       In den Reisfeldern von Bangladesch lebt etwa der Minifisch Ambylpharyngodon
       mola, der reich an Vitamin A und Eisen ist. Eine Fischdiät verbesserte bei
       3- bis 7-jährigen Kindern den Mikronährstoffzustand effektiver als eine
       gleiche Menge Vitamin A in Pillenform.
       
       ## Goldener Reis
       
       Dem versteckten Hunger langfristig etwas entgegenzusetzen versuchen seit
       nunmehr 24 Jahren auch die Schöpfer des „Golden Rice“. Bereits eine Portion
       liefert durch eine gentechnische Veränderung im Erbgut den Tagesbedarf an
       Provitamin A, herkömmliche Sorten enthalten dagegen gar kein Betacarotin.
       Allerdings können Bauern etwa auf den Philippinen mit dem Golden Rice nicht
       die gleichen Erträge erzielen wie mit herkömmlichen Reissorten.
       
       [4][Glenn Stone,] Anthropologe an der Washington University geht gemeinsam
       mit dem Reis-Forscher [5][Dominic Glover] in einer [6][aktuellen Bilanz
       (pdf)] hart mit dem GMO-Reis ins Gericht: „Der Reis ist weit davon
       entfernt, auf den Markt zu kommen.“ Und auch wenn dies geschehen sollte,
       sei es fraglich, ob das darin enthaltene Betacarotin im Körper von stark
       mangelernährten Kindern in Vitamin A umgewandelt werden könnte. Unklar ist
       auch, inwieweit traditionelle Garmethoden die Nährstoffgehalte verändern.
       Dabei ist Glenn Stone keinesfalls ein Gentechnik-Gegner, kurz nach der
       Entwicklung des GVO-Getreides plädierte er dafür, der Innovation in
       praktischen Studien eine Chance zu geben.
       
       Ungleich vehementer setzen sich andere Forscher für den Gentech-Reis ein:
       Erst kürzlich wendeten sich [7][mehrere Nobelpreisträger in einem Brief] an
       die Umweltorganisation Greenpeace mit dem Vorwurf, sie trüge mit schuld an
       den mauen Fortschritten des Golden Rice und damit an der Mangelernährung
       vieler Kinder – bereits früher waren Gentechnik-Kritiker als „Mörder“
       beschimpft worden. Angelika Hilbeck und Hans Herren, Agrarökologen an der
       ETH Zürich, ergriffen jedoch Partei für die Umweltorganisation: „Der Brief
       erkennt nicht die Fakten zu „Golden Rice“ an und stellt wissenschaftlich
       falsche Behauptungen auf.“ Zudem seien unter den Unterzeichnern keine
       Experten in Sachen Hungerbekämpfung oder Landwirtschaft zu finden.
       
       9 Dec 2016
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.deakin.edu.au/about-deakin/people/david-crawford
   DIR [2] http://www.gainhealth.org/
   DIR [3] http://www.lshtm.ac.uk/aboutus/people/green.rosemary
   DIR [4] https://anthropology.artsci.wustl.edu/stone_glenn
   DIR [5] http://www.ids.ac.uk/person/dominic-glover
   DIR [6] http://pages.wustl.edu/files/pages/imce/stone/stone_glover_2016_golden_rice.pdf
   DIR [7] http://supportprecisionagriculture.org/nobel-laureate-gmo-letter_rjr.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kathrin Burger
       
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