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       # taz.de -- Kolumne Kapitalozän: Der Weg aus der Knechtschaft
       
       > Wann kommt die Vollautomatisierung von Online-Netzwerken? Algorithmen
       > quatschen mit Algorithmen. Und das Leben geht endlich weiter.
       
   IMG Bild: Träumen. Für viele schlimm, weil offline. Hier schlafperformt der Künstler Virgile Novarina
       
       Die U6 kurvt sich durch den Untergrund. Ein Geiger fiedelt den
       eingepferchten Pendlern die „kleine Nachtmusik“. Alle touchen konzentriert
       auf ihren Touchscreens herum. Ich schiele auf das Display des
       Business-Style-Typen neben mir. Er muss bunte Bonbons verschiedener Farben
       kaputttouchen. Plopp, 500 Punkte und plopp, eine Kettenreaktion zerstört
       rosafarbene Blasen, yeah, überall blitzten die Punkte auf.
       
       Ich wende mich wieder meinem Text über Stopflebern bei Gänsen zu.
       Stopflebern sind böse. Die Tiere brauchen einen Teich, um artgerecht zu
       baden. Der Geiger ist fertig, läuft durch den Gang und schwenkt einen alten
       Pappbecher umher. Die meisten beachten ihn nicht. Von mir bekommt der
       Geiger auch nichts. Ich verabscheue die „kleine Nachtmusik“.
       
       „Mein Lieber, Sie sind ein echter Misanthrop“, sagt Friedrich August, der
       zwischen mir und dem Handydaddler sitzt und dem Geiger einen Euro in den
       Becher schnippt. Friedrich August ist ein eleganter Herr mit Zylinder und
       Gehstock, der sich die letzten 200 Jahre als Geist des Kapitalismus
       verdingte und seit ein paar Wochen bei mir wohnt. Außerdem ist er nur 30
       Zentimeter groß, 30,8 Zentimeter, um genau zu sein. Heute muss er
       geschäftlich in die Stadt.
       
       Er sucht Investoren für ein Start-up. Der Mensch, erklärte mir Friedrich
       August kürzlich, habe nämlich genug palavert. Neues käme nicht hinzu, also
       könne man ihn von der Bürde der zwischenmenschlichen Kommunikation
       befreien. Friedrich Augusts Algorithmus wertet einfach das gesamte Internet
       aus und teilt dann die Menschheit in Gruppen ein, die sich erwartbar
       verhalten.
       
       Das Programm ermittelt aus Billionen bereits verfasster Mails, Posts,
       SMSen, WhatsApps, Facebook-Instagram-Snapchat-Twitter-Bla-Zeugs-Nachrichten
       voll automatisiert mögliche Antworten auf künftige Mails, Posts, SMSen,
       WhatsApps, Facebook-Instagram-Snapchat-Twitter-Bla-Zeugs-Nachrichten.
       Friedrich Augusts Endziel ist, das digitale Grunzen in sozialen Netzwerken
       – inklusive Empörungswellen, Shitstorms und so weiter – voll zu
       automatisieren. Künftig reden dann einfach Algorithmen mit Algorithmen.
       
       Was dazu führt, dass der Mensch durch Befreiung vom Zwang zur
       zwischenmenschlichen Kommunikation wieder Zeit hat einfach mal … zu
       quatschen. Friedrich August will als sympathisches Start-up beginnen, dann
       rücksichtslos expandieren, alles wegkaufen, was ihm im Weg steht, inklusive
       Google, und dann Monopolist und steinreich sein.
       
       „Ich verwehre mich des Vorwurfs, ein Misanthrop zu sein. Der Geiger übt
       einen ehrbaren Beruf aus. Ich schätze seine Kunst einfach nicht. Ich kauf
       doch auch nicht aus Mitleid, sagen wir mal, Schuhe“, sag ich zu Friedrich
       August.
       
       Der Geiger steigt aus. Ich beneide ihn. Einfach raus und geigen, wo es sich
       geigen lässt. Ich will auch raus. Darf aber erst in ein paar Stationen.
       Muss arbeiten. Wie alle. Wir werden nicht artgerecht gehalten.
       
       „Schon gut“, sagt Friedrich August. Wir dösen. Unsere Smartphones fechten
       die Debatte derweil automatisch in einer eigenen WhatsApp-Gruppe aus. Geil!
       Die beleidigen sich sogar!
       
       16 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ingo Arzt
       
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