URI: 
       # taz.de -- Wege aus der Armut: „Bildung ist kein Wundermittel“
       
       > Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge über Bremens
       > Handlungsspielräume im Kampf gegen Armut
       
   IMG Bild: Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge kandidiert für das Amt des Bundespräsidenten
       
       Herr Butterwegge, was ist Reichtum? 
       
       Christoph Butterwegge: Für mich ist Reichtum gegeben, wenn jemand ein so
       großes Vermögen hat, dass er ohne materielle Sorgen bis ans Ende seiner
       Tage leben kann.
       
       … und Armut?
       
       Da sollte man zwischen absoluter und relativer Armut unterscheiden. Absolut
       arm ist jemand, der seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann. Wer
       nicht am kulturellen und sozialen Leben teilhat, weil ihm die finanziellen
       Ressourcen dafür fehlen, mal ins Restaurant, ins Kino oder ins Theater zu
       gehen, ist relativ arm.
       
       Bremen lag vergangenes Jahr mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von
       47.603 Euro noch vor Bayern auf Platz zwei im Ländervergleich. Was sagt das
       über einen Zusammenhang zwischen Wirtschaftsleistung und Armut? 
       
       Armut und Reichtum schließen sich keineswegs aus, sondern sind zwei Seiten
       einer Medaille. Man kann man auch in unserem eigentlich reichen Land arm
       sein, weil vor allem die Vermögen ungleich verteilt wird.
       
       Was ist auf Länderebene möglich, um diese Armut zu reduzieren? 
       
       Armut ist letztlich vom Bund zu bekämpfen, denn die Landespolitik hat nur
       verhältnismäßig wenig Möglichkeiten. Ein Stadtstaat wie Bremen kann
       natürlich durch sozialen Wohnungsbau helfen oder per durchdachter
       Bildungspolitik die Schulsituation von Kindern aus armen Familien
       verbessern.
       
       Inwiefern kann Bildung Armut reduzieren? 
       
       Im Einzelfall kann man durch gute Bildung auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen
       und aus prekären Verhältnissen aufsteigen.
       
       Und jenseits des Einzelfalls? 
       
       Gesamtgesellschaftlich wird die Bildung als Mittel gegen Armut überschätzt.
       Wenn alle Kinder und Jugendlichen besser gebildet wären – was ich ihnen
       natürlich wünsche – dann würden sie vielleicht auf einem höheren
       intellektuellen Niveau um die immer noch fehlenden Arbeits- und
       Ausbildungsplätze konkurrieren. Wer die Bildung im Kampf gegen die Armut
       als Wundermittel anpreist, will oft nur davon ablenken, dass eine
       Umverteilung von oben nach unten notwendig ist.
       
       In Bremen hat mehr als die Hälfte der Kinder unter sechs Jahren einen
       Migrationshintergrund. Spielt das eine Rolle für die zukünftige Armut? 
       
       Migranten sind in unserem Land in vielen Bereichen benachteiligt,
       beispielsweise in der Bildung, aber auch auf dem Arbeits- und dem
       Wohnungsmarkt. Überdies hat der Aufenthaltsstatus einen großen Einfluss.
       Grundsätzlich gilt: Je prekärer der Aufenthalt, desto höher das
       Armutsrisiko. Bei der Migrationspolitik muss also auch beachtet werden,
       dass wirkliche Inklusion erfolgt.
       
       Frauen verdienen in Bremen 25 Prozent weniger als Männer und sind häufiger
       in Minijobs beschäftigt. Müssen Frauen gefördert werden, um Armut zu
       bekämpfen? 
       
       Ja, indem man den Niedriglohnsektor eindämmt und Minijobs
       sozialversicherungspflichtig macht. Nötig wäre eine Reregulierung des
       Arbeitsmarktes. Denn der breite Niedriglohnsektor, in dem heute fast ein
       Viertel aller Beschäftigten arbeiten, ist das Haupteinfallstor für jetzige
       Erwerbs- und spätere Altersarmut.
       
       Aber sind davon nicht hauptsächlich Frauen betroffen? 
       
       Das stimmt. Deshalb profitieren Frauen auch am meisten davon, wenn die
       unsozialen Verhältnisse geändert werden.
       
       Laut Armutsbericht stieg das Vermögenseinkommen in den vergangenen Jahren
       um 36 Prozent, die Löhne um 17 Prozent. Die Arbeitslosenquote ist gesunken.
       Trotzdem stieg im selben Zeitraum das Armutsrisiko von 19 auf knapp 25
       Prozent. Können Sie sich das erklären? 
       
       Heute sind viele Menschen arm trotz Arbeit, was früher selten der Fall war.
       Dadurch werden die Reichen reicher und die Armen zahlreicher. Denn niedrige
       Löhne führen zu hohen Gewinnen.
       
       Können Sie das ausführen? 
       
       Neben dem Niedriglohnsektor spielt der Abbau des Sozialstaates eine
       Schlüsselrolle. Auch eine Steuerpolitik, die große Vermögen begünstigt und
       Arme durch eine hohe Mehrwertsteuer belastet, trägt maßgeblich zur Spaltung
       in Arm und Reich bei.
       
       Ist Deutschland eine Oligarchie? 
       
       Nein, aber der Reichtum konzentriert sich in Deutschland in wenigen Händen.
       Es gibt bei uns Großunternehmer, die wegen des Firmenimperiums, über das
       sie verfügen, in anderen Ländern als Oligarchen bezeichnet würden. In
       Deutschland ist für sie der Kosename „Familienunternehmer“ üblich.
       
       Was kann der Bund tun? 
       
       Der Bund muss Vermögende und Spitzenverdiener stärker besteuern, um damit
       für Kinder aus sozial benachteiligten Familien bessere Bildungschancen zu
       schaffen. Die Grundsicherung muss anders als Hartz IV armutsfest,
       bedarfsgerecht und sanktionsfrei sein. Auch der Mindestlohn muss – ohne
       Ausnahme – angehoben werden.
       
       Hat die Einführung des Mindestlohns die Armut in Deutschland reduziert? 
       
       Der Mindestlohn hat im untersten Segment der Niedriglohnbeschäftigung
       geholfen. Für alle anderen Bereiche ist er zu gering und kennt zu viele
       Ausnahmen. Der Mindestlohn holt aber niemanden aus der Armut heraus.
       
       Sind zehn Euro ausreichend? 
       
       Streng genommen müsste er höher liegen. Die Bundesregierung selbst hat
       gesagt, dass er 11,60 Euro betragen müsste, um nach jahrzehntelanger
       Berufstätigkeit eine Rente zu erhalten, die höher ist als die staatliche
       Grundsicherung. Aber wer wie die Linke einen solchen Mindestlohn fordert,
       gilt schnell als Fantast.
       
       Sind Sie ein Fantast? 
       
       Nein, ich wäre schon froh, wenn alsbald zehn Euro erreicht würden.
       
       16 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lukas Thöle
       
       ## TAGS
       
   DIR Interview
   DIR Christoph Butterwegge
   DIR Schwerpunkt Armut
   DIR Bremen
   DIR Reichtum
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Schwerpunkt taz.meinland
   DIR Schwerpunkt Armut
   DIR Christoph Butterwegge
   DIR Christoph Butterwegge
   DIR Bundesversammlung
   DIR Wahlen
   DIR Bremerhaven
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Stendal-Stadtsee. Eine Ortserkundung (1): Am äußersten Rand
       
       Arbeitslose, Wendeverlierer, Alleinerziehende: Armut ballt sich in manchen
       Vierteln. Wie es klingt, wenn man mit den Bewohnern statt über sie redet.
       
   DIR Christoph Butterwegge im taz Café: „Offenheit ist mir zu vage“
       
       Christoph Butterwegge, Bundespräsidentschaftskandidat der Linken,
       diskutierte im taz Café über Arm, Reich und die Ziele unserer Gesellschaft.
       
   DIR Arm im Alter: Die Sonne scheint für alle kostenlos
       
       Wann fängt Armut an? Reichen 850 Euro für ein anständiges Leben? Über die
       Bedeutung des Gefühls, eine Wahl zu haben.
       
   DIR Butterwegge über Bundespräsidentschaft: „Ich vertrete SPD-Überzeugungen“
       
       Christoph Butterwegge ist sicher, dass man Reichtum antasten muss.
       Rechtspopulisten würde er als Präsident klare Kante zeigen.
       
   DIR Präsidentschaftskandidat der Linken: Butterwegge gibt den Anti-Etablierten
       
       In einem Interview empfiehlt sich Armutsforscher Christoph Butterwegge als
       Alternative zum herrschenden Politikbetrieb. Er will die soziale Frage als
       eigenen Schwerpunkt setzen.
       
   DIR Linkspartei mit eigenem Kandidaten: Steinmeier nicht mehr alternativlos
       
       Der renommierte Armutsforscher Christoph Butterwegge soll für die
       Linkspartei als Kandidat bei der Bundespräsidentenwahl antreten.
       
   DIR Bremer Wahlrecht wird repariert: Die Qual der Wahl
       
       Zu viele ungültige Stimmen, eine sozial nicht repräsentative Bürgerschaft –
       es gibt einiges zu verbessern für den Wahlrechtsausschuss.
       
   DIR Unter Armen: Der Stolz bleibt
       
       Bremerhaven-Lehe ist der ärmste Stadtteil im Norden. Die Verwahrlosung,
       nach der Medien hier immer wieder suchen, ließe sich auch anderswo finden.