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       # taz.de -- Zum Tod von Hildegard Hamm-Brücher: „Alle Politik ist Frauenpolitik“
       
       > 2009 sprachen wir mit Hildegard Hamm-Brücher über ihre Abkehr von der
       > FDP, Hosenanzüge, Frauen in der Politik sowie über Erich Kästner als
       > Chef.
       
   IMG Bild: Eine Vertreterin der sozialliberalen Ära: Hamm-Brücher 1978 während einer Sitzung des Europarates in Straßburg, gemeinsam mit Kanzler Helmut Schmidt
       
       Am 9. Dezember 2016 ist die frühere FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher
       im Alter von 95 Jahren gestorben. Dieses Gespräch wurde 2009 geführt. Er
       erschien am 9. Mai, zwei Tage vor Hamm-Brüchers 88. Geburtstag, zwei Wochen
       vor der Wahl des Bundespräsidenten und wenige Monate vor der
       Bundestagswahl, bei der die FDP unter Guido Westerwelle 14,6 Prozent der
       Stimmen erreichte.
       
       ***
       
       Hildegard Hamm-Brücher begrüßt ihre Gesprächsgäste im Foyer des Berliner
       Hotels Adlon am Pariser Platz. Die große alte Dame der FDP, Jahrgang 1921,
       ist um fünf Uhr aufgestanden, um von München nach Berlin zu fliegen. Dort
       hat sie im Adlon eine Pressekonferenz zu dem von ihr herausgegebenen Buch
       „Demokratie, das sind wir alle“ gegeben. Nach einem leichten Mittagessen
       steht sie für ein Gespräch mit anschließendem Fotoshooting vor dem
       Reichstag zur Verfügung. Schon in eineinhalb Stunden geht ihr Flieger
       zurück nach München. 
       
       taz: Frau Hamm-Brücher, Sie haben gerade ein Buch anlässlich des 60.
       Geburtstages des Grundgesetzes herausgegeben. 
       
       Hildegard Hamm-Brücher: Haben Sie das denn gelesen? Oder interessiert Sie
       das gar nicht?
       
       Doch, doch, Sie haben schließlich auch einen Aufsatz darin geschrieben! 
       
       Ja, in der Tat, und zwar meine Zeitgeschichte, meine Zeitzeugengeschichte
       von 1949 an, und das ist eine andere, kritischere Schilderung im Vergleich
       zu den meisten Jubelberichten, die jetzt vom Stapel gelassen werden.
       
       Da wird ein Jubelkranz gewunden? 
       
       Es wird generalisiert, was wir für eine wunderbare Demokratie geworden
       sind. Sie ist zwar im Vergleich zu früher sehr gut gelungen, aber sie ist,
       auch im Hinblick auf Parteienverdrossenheit, Wählerabstinenz und mangelnden
       Parlamentarismus, nicht so perfekt, dass man sagen könnte: Das lassen wir
       so laufen.
       
       Wir sind Anfang der Siebziger geboren und kennen den Liberalismus nur noch
       als Neoliberalismus. Können Sie uns vielleicht erklären, was Liberalismus
       ist? 
       
       Ich weiß, was Sozialliberalismus ist. Das hatten wir zehn Jahre, mit Willy
       Brandt, Helmut Schmidt, Walter Scheel, da haben wir soziale und liberale
       Politik gemacht – nicht nur diesen Wirtschaftsliberalismus, der jetzt
       angesagt ist. Der auch einer der Gründe war, warum ich aus der FDP
       ausgetreten bin.
       
       Können Sie uns denn sagen, was dem Liberalismus in Deutschland heute fehlt? 
       
       In unserer reinen Parteiendemokratie ist eine Parteipolitisierung des
       Liberalismus schwierig. Ich finde, in allen Parteien müsste mehr
       Liberalität sein, mehr Offenheit für Veränderung und Pluralität. Aber wir
       haben eben dieses System. Und eine liberale Partei, die für sich in
       Anspruch nimmt, die einzige zu sein, die Liberalismus vertritt, und sich
       dann so verengt! Nur gewählt zu werden, um einer anderen Partei die
       Mehrheit zu verschaffen, ist ja auch nicht gerade das Ideal.
       
       Heißt das, das Elend der FDP nahm Anfang der Achtziger seinen Lauf? Als
       Ihre Partei gegen Ihren Willen die sozialliberale Koalition auflöste und
       mit Kohl regierte? 
       
       Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff meinten seinerzeit, wir
       müssten Schmidt stürzen, weil Kohl eine Amnestie für Parteispendensünder
       versprochen hatte.
       
       Das war der einzige Grund? 
       
       Natürlich nicht. Schmidt und Genscher, die redeten nie richtig miteinander
       – statt dass sie sich mal hingesetzt hätten, um ein paar Bierchen
       miteinander zu trinken. Schmidt war einer der besten, wenn nicht der beste
       Kanzler, den die Bundesrepublik je hatte.
       
       Mit Ihnen ist es eine Freude, Kaffee zu trinken, Bierchen mit Guido
       Westerwelle fänden wir schwierig. Ein Vorurteil? 
       
       Ursprünglich war Herr Westerwelle ein begabter junger Nachwuchspolitiker,
       der rhetorisch sehr gut und aktiv war – und so weiter. Aber als er sich
       dann in der Partei durchgesetzt hatte, zeigte sich: Er ist ein reiner
       Machtpolitiker, sehr geschickt, sicher auch begabt. Aber wenn ich in einer
       Partei bin, dann muss ich doch wenigstens in Bruchstücken mit dem
       übereinstimmen, was diese Partei will, nicht?
       
       Und warum gewinnt dann die FDP ausgerechnet jetzt in der Krise Wahlen? 
       
       Es gibt Leute, die versprechen sich davon einen Vorteil. Ich glaube, dass
       die Form des Kapitalismus, die Herr Westerwelle vertritt, nicht mehr zu
       vertreten ist. Dieser Kapitalismus hat abgewirtschaftet, das ganze System
       ist so diskreditiert, da kann man doch nicht einfach sagen: Weiter so, und
       die Leute können auch in Zukunft mit ihrem Geld in Steueroasen abziehen.
       Die schützt er ja jetzt auch schon wieder.
       
       Er … Finden Sie es schmerzlich, dass das Gesicht des Liberalismus in
       Deutschland nur noch aus Guido Westerwelle besteht? 
       
       Nun, das ist ein Problem. Früher gab es ein Team, zum Beispiel Herrn
       Genscher, Herrn Mischnick, Herrn Scheel, die Frau Hamm-Brücher. Jetzt gibt
       es nur noch Herrn Westerwelle. Herr Brüderle ist mittlerweile auch ein
       bisschen abgewirtschaftet.
       
       Wie konnte das denn passieren? Haben Sie sich damals womöglich nicht um den
       Nachwuchs gekümmert? 
       
       Wie das passieren konnte? Der Nachwuchs hat sich 1982 abgewandt, und das
       hatte eine Veränderung in der Mitgliedsstruktur der Partei zur Folge, die
       von Nordrhein-Westfalen aus, von Herrn Möllemann und von Herrn Westerwelle,
       eingefädelt wurde. Das war der stärkste Landesverband, die haben dann die
       Mehrheiten gebracht, und er saß fest im Sattel. So konnte das passieren.
       
       Und so ist es seitdem? 
       
       Ja. Die wenigen, die noch einen sozialliberalen Kurs vertreten, etwa meine
       Freundin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, tun sich natürlich schwer. Sie
       hat die FDP jetzt in den bayerischen Landtag gebracht und dadurch natürlich
       eine bessere Position, aber es ist nicht leicht und als Frau doppelt
       schwer.
       
       Da fällt einem Silvana … 
       
       Ich nehme mal kurz die Brille ab, ich glaube, das sieht ein bisschen
       freundlicher aus, für Ihren Fotografen.
       
       Unbedingt, dann sieht man auch Ihre schönen Augen besser. Möchten Sie
       vielleicht noch etwas trinken, Frau Hamm-Brücher? 
       
       Ach nein, danke, ich hatte heute schon so viel Kaffee. Ich bin ja schon um
       fünf Uhr aufgestanden.
       
       Und wir drangsalieren Sie hier mit unseren Fragen. Unhöflich, aber wir
       wissen auch nicht mehr, was eine Dame ist. Die gibt es doch heute gar nicht
       mehr, oder? 
       
       Die gibt es schon. Früher gab es Damen, die nichts zu sagen hatten, heute
       gibt es Damen, die keine richtigen Damen mehr sind, aber dafür was zu sagen
       haben.
       
       Sie waren immer eine Dame, die auch was zu sagen hatte. Wie ging das? 
       
       Angela Merkel hat mich neulich als „die dienstälteste Politikerin des
       Landes“ apostrophiert. Und junge Frauen wollen immer von mir wissen: Wie
       war denn das damals, als Sie immer die einzige und die jüngste waren? Heute
       bin ich auch immer die einzige – und die älteste. Also, das Leben ist
       wirklich wundersam … Früher gab es eigentlich immer nur Alibifrauen, die
       man dann mitlaufen ließ. Wirklichen Einfluss, den musste man sich doppelt
       hart erkämpfen.
       
       Das waren oft Frauen, keine Damen. Eher neutral. 
       
       Ja, und die haben in den Parteien auch nur wenig den Mund aufgemacht. Aber
       ich fand 1945, nachdem uns Männer gleich zweimal hintereinander in den
       Krieg und ins Unglück gestürzt hatten, dass sie das nicht ein drittes Mal
       machen dürften.
       
       2004 haben Sie die Präsidentschaftskandidatur von Gesine Schwan
       unterstützt, weil Sie der Meinung waren, dass eine Frau … 
       
       Sogar vehement! Auch in Zeitungsanzeigen. Auf den Schulden bin ich noch
       lange gesessen.
       
       Schalten Sie noch mal welche in den nächsten zwei Wochen? 
       
       Nein. Ich schätze Gesine Schwan sehr, nach wie vor. Aber ich finde, in
       dieser Situation ist Köhler viel besser, als man zunächst geglaubt hat. Er
       versteht wirklich etwas von den Weltwirtschaftssachen – und hat mehr zu der
       Situation zu sagen als die meisten Politiker.
       
       Waren Sie seinerzeit traurig, dass Sie das Präsidentenamt nicht bekommen
       haben? 
       
       Nein! Überhaupt nicht. Keine Minute. Ich hatte keine Chance, aber ich habe
       sie genutzt. Und noch heute sagen mir Leute: Schade, dass Sie das damals
       nicht geworden sind. Aber immerhin, bis Mitte der Neunziger hatte man ja
       noch nicht mal die Idee, dass das auch eine Frau machen könnte.
       
       Und dennoch möchten Sie sich nicht als Frauenpolitikerin verstanden fühlen.
       Weil man darauf reduziert wird? 
       
       Erstens ist für mich alle Politik Frauenpolitik. Ich mag nur das Gejammere
       und Geweine nicht, das Sich-benachteiligt-Fühlen und die pauschale
       Beschimpfung der Männer. Auch finde ich es gut, wenn Männer und Frauen
       gemeinsam aktiv werden.
       
       Hildegard Knef lernte im Krieg die Kameradschaft mit Männern, Soldaten
       schätzen. 
       
       Ich bin jünger als Hildegard Knef, und ich war zu Kriegszeiten noch voll im
       Studium und hatte meine Platz noch so gar nicht gefunden. Durch die
       Nürnberger Gesetze war ich als Mischling eingeordnet.
       
       Weil Ihre Großmutter Jüdin war? 
       
       Ja, meine Großmutter, bei der wir seinerzeit lebten, nahm sich das Leben,
       als sie nach Theresienstadt deportiert werden sollte. Mir wollte man
       zunächst keine Studienerlaubnis geben.
       
       Das Frauenbild wurde damals vom BDM bestimmt, dem Bund Deutscher Mädel.
       Hätten Sie da gerne mitgemacht, auch wenn Sie nicht durften? 
       
       Nein. Und zwar aus zwei Gründen: erstens, weil ich ein frommes Kind war –
       in diesen Nazi-Organisationen war das sehr verhasst. Und das andere war,
       dass ich unheimlich frühzeitig so viel gelesen habe, so viele Interessen
       gehabt habe. Ich hätte gar keine Zeit für so was gehabt.
       
       Also keine Zeit, Rhönrad zu fahren … 
       
       … Keulen schwingen, rumhopsen, Aufmärsche machen, Fähnchen schwingen …
       
       Sie waren gar nicht jugendbewegt? 
       
       Nein, ich war ziemlich immun. Ich hatte auch immer Freundinnen, die mich
       beneidet haben, weil ich da nicht reinmusste.
       
       Später waren Sie dann in einer Partei. 
       
       Ja, und das würde ich heute nicht mehr machen.
       
       Heißt das, junge Leute sollten ebenfalls die Finger von so etwas lassen? 
       
       Nein, das nicht. Wer sich politisch engagieren will, muss dies in einer
       Partei tun, keine andere Chance. Aber es gibt es so viele andere wichtige
       Bereiche, von Greenpeace bis Amnesty, man kann sich genauso ohne Partei
       politisch engagieren und nützlich machen, ohne diese „Erniedrigungen des
       Aufstiegs“ in der Partei. So habe ich das immer genannt. Aber damals, nach
       dem Krieg, da war alles noch viel offener, die waren ja froh, wenn sie
       überhaupt jemanden hatten, der mitgemacht hat, zumal eine junge Frau, die
       sich einigermaßen benehmen konnte, reden konnte. Das war viel einfacher.
       Heute würde ich auch nicht so schnell Karriere machen, wahrscheinlich würde
       ich gar keine machen.
       
       Und wie wird man heute Politiker? 
       
       Ich meine, wenn Sie Parlamentarier werden möchten, dann müssen Sie schon in
       eine Partei gehen. Aber es gibt ja heute auch Parteien, die offener sind,
       bei den Grünen, da kann man doch wohl weiter seine Meinung sagen.
       
       Womöglich. Was haben Sie damals eigentlich gedacht, als die Grünen in den
       Bundestag einzogen? 
       
       Da war ich begeistert! Wie sie da mit ihren Blumentöpfen und Turnschuhen
       anmarschiert kamen, während der Bundestagspräsident uns Frauen nicht im
       Hosenanzug zum Rednerpult gehen lassen wollte. Der hat uns ja
       zurückgeschickt!
       
       Wirklich wahr? 
       
       Ja! Das war Anfang der Siebziger. Der schickte auch Leute, die keinen
       Schlips anhatten, zurück.
       
       Haben Sie gern Hosenanzüge getragen? 
       
       Ich fand die praktisch, man hatte dann nicht immer den Ärger mit
       Laufmaschen und zu engen Röcken.
       
       Heute scheint es eine verbindlichen Look für Politikerinnen zu geben,
       Angela Merkel und Hillary Clinton sehen irgendwie gleich aus, finden Sie
       nicht? 
       
       Ja, ja, Hose und Blazer, da würde ich mir auch ein bisschen mehr
       Abwechslung wünschen. Aber Angela Merkel kann da nicht so viel Zeit darauf
       verwenden, die hat ja nun eine Übermenge zu tun. Das Kanzleramt ist das
       einzige Amt, das ich mir nie zugetraut hätte, ich habe ja als
       Staatsministerin gesehen, was Helmut Schmidt seinerzeit von sechs Uhr früh
       bis zwei Uhr nachts leisten musste.
       
       Macht Angela Merkel das gut? 
       
       Ja, sehr gut. Großer Respekt. Das hätte ich ihr anfangs nicht zugetraut.
       Und dann diese Kritisiererei. Bei Schröder hieß es immer der
       „Basta-Kanzler“, und jetzt ist es auch nicht recht, wenn sie versucht, zu
       moderieren. Aber sie hält die Koalition zusammen. Meine Prognose: Mit der
       großen Koalition geht es weiter. Ich finde auch Schwarz-Gelb nicht so
       attraktiv, da müsste ja Angela Merkel wieder völlig umschalten.
       Beziehungsweise den Rückwärtsgang einlegen: zurück nach Düsseldorf.
       
       Sie raten also ab, die FDP zu wählen?! 
       
       Ich warne davor, weil es sich um kommunizierende Röhren handelt. Wenn es
       bei der CDU runtergeht, geht es bei uns wieder rauf – und umgekehrt.
       
       Um noch mal auf Angela Merkel zurückzukommen: Finden Sie, dass ihre Politik
       deutlich weibliche Züge trägt, das Moderierende zum Beispiel? 
       
       Wenn sie neben Obama sitzt und richtig mit ihm flirtet, dann setzt sie ihre
       Fraulichkeit ein. Das ist natürlich diplomatisch, aber sie macht das mit
       einer Natürlichkeit, sie küsst den Sarkozy …
       
       Ist sie da reingewachsen? 
       
       Sie ist enorm gewachsen! Und sie ist sehr lernfähig.
       
       Wir möchten ja von Ihnen lernen. Wirtschaftskrise, Klimakatastrophe,
       Schweinegrippe – mit Ihrer Erfahrung im Rücken: Wie kommen wir da durch? 
       
       Mit Gottvertrauen. Nein, im Ernst, da gibt es kein Rezept. Man muss etwas
       gelernt haben, damit man sein täglich Brot verdienen kann. Es weiß niemand
       auf dem Gipfel, wo das Ganze wirklich ankommt; Ob man das Finanzwesen auf
       eine Kontrollebene bekommt ob man das schafft und ob das hilft. Ich kann
       Ihnen da leider gar keinen Trost bieten.
       
       Nicht? 
       
       Ach Gott, das Leben ist mal so und mal so. Es ist doch auch schön, wenn
       nicht alles immer auf Nummer sicher läuft, das kennen Sie doch auch von
       Ihrer Zeitung.
       
       Ja, stimmt. Sie waren ja auch mal Journalistin – und Ihr Chef war Erich
       Kästner? 
       
       Der war reizend! Ein toller Bursche. Ich war sehr jung, hatte ja eigentlich
       Chemie studiert. Und die Neue Zeitung war eine von den Amerikanern
       gegründete Zeitung, in der man dann lernte, was freier Journalismus ist.
       Als Naturwissenschaftlerin bekam ich sofort Aufträge, über Atomspaltung und
       Penicillin zu schreiben – das war damals was ganz Neues. Das Einzige, was
       ich nicht konnte, war Schreiben. Mein erster Artikel sollte ein
       biografisches Stück über den jüdischen Wissenschaftler Fritz Haber sein.
       
       Der vom Haber-Bosch-Verfahren, mit dem man Ammoniak gewinnt? 
       
       Ja, und der Artikel war dann sechs Seiten lang. Aber die Neue Zeitung, die
       hatte ja höchstens drei Blätter, höchstens. Erich Kästner, den ich gar
       nicht kannte, ließ mich dann reinbestellen und sagte, dass das alles sehr
       schön sei – und auf eineinhalb Seiten gekürzt werden müsse …
       
       Streng! 
       
       Nein, wir haben beide sehr gelacht. Ich habe von ihm gelernt, wie man einen
       Artikel schreibt. Und er erfand immer neue Namen für mich. Wenn etwas gut
       war, sagte er: „Hildegardinchen, das haben Sie gut gemacht“, oder er sagte:
       „Hilde Vorgärtchen, da müssen Sie noch ein bisschen jäten.“ Es war immer
       Spaß.
       
       Er war auch im richtigen Leben witzig? 
       
       Ja, nicht so ein sturer journalistischer Bürokrat. Er hat sich dann sehr
       schnell aus der Chefredaktion zurückgezogen, weil er schreiben wollte, ihm
       war das zu langweilig. Aber wir blieben Freunde, bis zu seinem Lebensende.
       
       Gab es einen Fehler in Ihrem Leben, den Sie grundsätzlich bereuen? 
       
       Nein, dafür war ich zu nüchtern. Ich wusste ja auch immer, du kannst gar
       nicht alles ändern – natürlich hat man Dummheiten und Fehler gemacht, klar.
       Aber das bejahe ich.
       
       Sich auch mal verfahren. Verraten Sie uns doch auch noch, was Ihr erstes
       Auto war – weil man doch gerade nicht weiß, welche Firmen pleitegehen. 
       
       Mein erstes Auto? Das ist eine nette Frage. Meinen Führerschein habe ich ja
       schon 1937 gemacht. Nach dem Krieg, als ich bei der Neuen Zeitung war,
       kaufte ich mir einen kleinen, vorher beschlagnahmten Fiat, grün war der.
       Ich nannte ihn dann den „Grünen Heinrich“. Ein Zweisitzer mit
       Steckfenstern, das Dach ging zurück, und hinten war eine Klappe, in der zur
       Not jemand sitzen konnte. Und das war dann der Erich Kästner, wenn wir im
       Winter über Land fuhren, um irgendwo Eier zu hamstern. Ich hatte, mit
       meinen chemischen Kochkünsten, Süßstoff hergestellt, und den tauschten wir
       ein. Da bekamen wir für ein kleines Tütchen Saccharin Eier oder Mehl. Dann
       habe ich Alkohol destilliert, und wir haben Eierlikör gemacht. So haben wir
       uns über Wasser gehalten.
       
       Also doch ein Trost für Krisenzeiten! 
       
       Nun geht es weiter mit dem Taxi, um die Ecke, bloß zum Reichstag, wo Frau
       Hamm-Brücher inmitten von Horden jugendlicher Limonadetrinker steht, die
       auf den Treppen des Reichstags in der Sonne sitzen, weil ihre Lehrer das so
       wollten. Die Taxifahrerin lässt es sich nicht nehmen, auf Frau Hamm-Brücher
       zu warten – „eine Dame! So jemanden fährt man nicht alle Tage.“
       
       9 Dec 2016
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Martin Reichert
   DIR Matthias Lohre
       
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